Uebersicht  

Das Fegefeuer.

Dreiunddreißigster Gesang.

1 Herr, eingefallen sind die Heiden! singen  1
  Abwechselnd drei und vier, mit süßem Klang,
  Doch thränenvoll die Frauen an zu singen.
4 Beatrix horchte schweigend dem Gesang,
  Verwandelt wie Maria, die mit Grauen
  Des Mutterschmerzes unterm Kreuze rang.
7 Doch als nun ihrem Wort die andern Frauen
  Erst Raum gegeben, sah ich Sie erstehn,
  Grad', aufrecht, gleich dem Feuer anzuschauen.
10 "Ueber ein Kleines sollt ihr nicht mich sehn10
  Und wiederum, ihr Schwestern, meine Lieben,
  Ueber ein Kleines werdet ihr mich sehn."
13 Sie sprach's und stellte vor sich alle Sieben,  13
  Und hinter sich, durch ihren Wink allein,
  Die Frau, mich und den Weisen, der geblieben.
16 Sie ging, doch mochten's kaum zehn Schritte sein,
  Die sie gegangen und uns gehen lassen,
  Da blitzt' ins Auge mir des Ihren Schein.
19 "Geh' itzt geschwinder," sagte sie gelassen,
  "Komm' näher her, daß, red' ich nun mit dir,
  Du wohl vermögend seist, mein Wort zu fassen."
22 Kaum war ich, wie ich sollte, nah' bei Ihr,
  Da sprach sie: "Bruder, bist mir nah' gekommen,
  Doch zu erfragen wagst du nichts von mir?
25 Wie wenn von zu viel Ehrfurcht schwer beklommen
  Mit seiner Obrigkeit ein niedrer Mann
  Halblaut und stockend spricht und kaum vernommen,
28 So sprach ich jetzt, da ich zu Ihr begann:
  ""O Herrin, ihr erkennt ja mein Verlangen,
  Und was ich brauch' und was mir frommen kann.""
31 Und Sie: "Mach itzt dich los von Scham und Bangen,
  Ich will's, und rede sicher nun und klar,
  Und nicht wie Einer, der im Traum befangen.
34 Der Wagen, den die Schlange brach, er war34
  Doch wer dies zu verschulden sich nicht scheute,
  Er fürchte Gottes Rach' auf immerdar!
37 Nicht immer sonder Erben wird, wie heute  37
  Der Adler sein, der ihm die Federn ließ,
  Drob er erst Ungeheuer ward, dann Beute.
40 Schon nahen Sterne sich - wie ich's gewiß
  Im Geist erkannt, so sei es ausgesprochen -
  Da kommt, von Schranke frei und Hinderniß,
43 Fünfhundert zehn und fünf hervorgebrochen,  43
  Ein Gottgesandter, der die Dirn' erschlägt
  Zusammt dem Riesen, der mit ihr verbrochen.
46 Und hab' ich jetzt dir Worte vorgelegt,
  Wie Sphinx und Themis, schwierig zu errathen,  47
  Daher dein Geist im Dunkel Zweifel hegt,
49 So lösen bald dies Räthsel dir die Thaten
  Statt der Najaden auf, und unbedroht
  Verbleiben drob die Heerden und die Saaten.
52 Merk, was ich sagt', und höre mein Gebot:
  Du sollst es dort den Lebenden erzählen,
  Im Leben, das ein Rennen ist zum Tod.
55 Nicht sollst du, wenn du dorten schreibst, verhehlen,
  Wie du den Baum gesehn. Erinnre dich:
  Du sahst zu zweien Malen ihn bestehlen.
58 Wer diesen Baum bestiehlt und freventlich
  Verletzt, kränkt Gott mit thät'gen Lästerungen,
  Denn Er schuf heilig nur den Baum für sich.
61 Für solchen Raub hat qualenvoll gerungen  61
  Fünftausend Jahr' und mehr der erste Geist
  Nach Ihm, deß Tod des Bisses Fluch bezwungen.
64 Wohl schlummert dein Verstand, wenn du nicht weißt,
  So hoch sei jener Baum aus tiefen Gründen,
  Wenn dir des Gipfels Bau dies nicht beweist.
67 Und hätte nicht, wie Elsa's Flut, mit Rinden  67
  Von Stein dein Grübeln die Vernunft bedeckt,
  Und wär' ihr Licht dir nicht getrübt von Sünden,
70 So hättest du, was das Verbot bezweckt,
  Und wie darin der Herr gerecht erscheine,
  Am Baum durch solche Zeichen leicht entdeckt.
73 Doch weil dein Geist verhärtet ist zum Steine,
  Befleckt von Schuld, verworren und berückt,
  Und blöde bei der Wahrheit hellem Scheine,
76 So nimm, zwar nicht als Wort, doch ausgedrückt
  Als Bild, in dir die Rede mit von hinnen,
  Wie man den Pilgerstab mit Palmen schmückt."  78
79 Und ich: ""So fest, als nur im Wachse drinnen
  Das Bild sich hält, das drein das Siegel gräbt,
  Trag' ich, was ihr gezeichnet habt, hier innen.
82 Doch was, wenn sich so hoch mein Blick nicht hebt,
  Fliegt eu'r ersehntes Wort in solche Sphären,
  Daß er es mehr verliert, je mehr er strebt.""
85 "Auf daß du wissest, welcher Schule Lehren,"  85
  So sprach sie, "du gefolgt, und sehst, wie weit
  Sie meinem Wort zu folgen sich bewähren;
88 Und wie ihr fern mit eurem Wege seid
  Von Gottes Weg, so fern, wie von der Erden
  Des höchsten Himmels Glanz und Herrlichkeit."
91 Und ich: ""Nicht will's mir klar im Geiste werden,
  Daß ich mich je entfernt von eurer Spur;
  Nicht fühl' ich im Gewissen drob Beschwerden.""
94 "Entsinnst du dessen dich nicht mehr?" so fuhr
  Sie lächelnd fort: "doch von der Lethe Fluten
Trankst du noch heute, deß gedenke nur.
97 Und, wie man richtig schließt vom Rauch auf Gluten,
  So siehest du durch dies Vergessen klar,  98
  Daß du dich abgewandt vom wahren Guten.
100 Jetzt wahrlich stellt, von jeder Hülle baar,
So viel, im engsten Kreise sich bewegend,
Dein Blick es fassen kann, mein Wort sich dar."
103 Und flammender, sich trägern Schrittes regend,  103
  Betrat jetzt Sol des Meridians Gebiet,
Das stets ein andres ist in andrer Gegend.
106 Da standen still, wie, wer als Führer zieht
Vor einer Schaar, sich schickt zum Stillestande,
Wenn er auf seinem Wege Neues sieht,
109 Die sieben Frau'n an dichten Schattens Rande,
Wie grünbelaubt schwarz-ästig Waldgeheg
Auf kalte Flüss' ihn gießt im Alpenlande.
112 Euphrat und Tigris schien vor ihrem Weg
Sich aus derselben Quelle zu ergießen,
Sich dann, wie Freunde, trennend, still und träg.
115 ""O Licht, der Menschheit Ruhm, welch' Wasser sprießen
Seh' ich aus Einem Ursprung hier hier; und dann,
Sich von sich selbst entfernend, weiter fließen?""
118 Auf diese Bitte hob Beatrix an:
"Mathilden bitt'," - und diese sprach dagegen,
Wie wer vom Vorvurf leicht sich lösen kann:  120
121 "Dies und noch Anderes ihm auszulegen
Versäumt' ich nicht, was, deß bin ich gewiß,
Der Lethe Wässer nicht zu tilgen pflegen."
124 Beatrix drauf: "Die größ're Sorg' entriß,
Wie's oft geschieht, dies seinem Angedenken
Und ließ sein geistig Aug' in Finsterniß.
127 Doch Eunoe sich - eil' ihn dahin zu lenken,
Und, wie du immer pflegst, ihm durch die Flut
Mit Leben die erstorbne Kraft zu tränken."
130 Wie ohn' Entschuldigung, wer mild und gut,
Als eignen Willen fremden aufgenommen,
Der sich durch Wink und Wort ihm zeigte, thut,
133 So ging, nachdem sie mich am Arm genommen,
  Die schöne Frau, und sagte weiblich mild
  Zu Statius: "Auch du sollst mit ihm kommen."
136 Hätt' ich, o Leser, Raum zu größerm Bild,
  So würd' ich dir zum Theil die Wonnen singen
  Des Tranks, der Durst erregt, wenn er ihn stillt,
139 Doch läßt sich nichts mehr auf die Blätter bringen,
  Die ich zu diesem zweiten Lied erkor,
  Drum hemmt der Zaum der Kunst mein Weiterdringen.
142 Ich ging aus jener heil'gen Flut hervor.
  Wie neu erzeugt, von Leid und Schwäche ferne,
  Gleich neuer Pflanz' in neuen Lenzes Flor,
145 Rein und bereit zum Flug ins Land der Sterne.

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Anmerkungen:

1 Anfang des neunundsiebenzigsten Psalmen: Herr, es sind Heiden in dein Erbe gefallen, die haben deinen heiligen Tempel verunreinigt und aus Jerusalem Steinhaufen gemacht.

10 Worte Christi Joh. 16 V. 16. Dante sagt, diesmal wirklich als Prophet, voraus, daß Rom bald wieder der Sitz des Nachfolgers Petri sein werde. Indessen regierten doch sechs Päpste siebzig Jahre lang in Avignon, und erst nach mehr als einem Jahrhundert, nachdem Päpste und Gegenpäpste ihr heilloses Wesen getrieben, sich gegenseitig verdammt und verflucht hatten, kehrte wieder Ordnung in die Kirchenherrschaft zurück. Vielleicht ist auch in diesen Worten die Rückkehr der Kirche zum wahren Christenthum durch eine von innen heraus vorzunehmende Verbesserung angedeutet, an deren Nothwendigkeit Dante an so vielen Stellen mahnt.

13 Jenen Weisen, den Statius.

34 Das Papstthum, als göttliche kirchliche Stiftung, war nach des Dichters Meinung im Jahre 1300, als Bonifaz der Achte den päpstlichen Stuhl einnahm, vernichtet.

37 Der Kaiser, der den heiligen Stuhl mit weltlichen Gütern beschenkte, und dadurch veranlaßte, daß die päpstliche Würde ganz entartete, und daß der Papst, in weltliche Handel verwickelt, seinen Sitz nach Avignon verlegte, wird einen Nachfolger haben, welcher solche Ungebühr rächen wird. Hiermit ist deutlich Heinrich der Siebente bezeichnet, auf welchen, als der Dichter schrieb,
                         "Ghibellinen alle ihre Hoffnungen setzten."

(S. die Einleitung.)

43 Fünfhundert zehn und fünf, in Zahlen geschrieben: DXV. Die älteren Ausleger, unter ihnen der würdige Landino, lesen in diesen das Wort: Dux, und deuten solches auf einen großen Kriegsanführer, hauptsächlich auf einen künftigen Kaiser. Diese Deutung wird fast nothwendig gemacht durch die vorhergehenden Verse 37 ff., in welchen auf den Erben des Adlers, als Werkzeug der göttlichen Rache hingewiesen wird. Andere Ausleger, unter diesen der neueste, finden in DXV die Anfangsbuchstaben der Worte Domini Xristi Vicarius und meinen, mit V. 43 sei ein trefflicher künftiger Papst gemeint, welcher der Verderbniß der Kirche ein Ende machen werde. Ungeachtet der großen Sicherheit, mit welcher diese Meinung ausgesprochen worden ist, will uns doch jene alte, wenn auch weit bescheidener ausgesprochene Ansicht als die besser begründete erscheinen, weil wir im ganzen Gedichte keine Stelle finden, in welcher der Dichter seine Meinung ausspräche, daß die Kirche durch einen künftigen Papst werde reformirt werden - und weil der streitige Vers mit den unmittelbar vorhergehenden in einem so klaren Zusammenhange steht, daß nur diejenigen ihn nicht sehen, die für das Nächste blind sind, aber in unermeßlicher Tiefe und Ferne das Größte wie das Kleinste genau zu unterscheiden sich einbilden.

47 Sphinx, das bekannte Ungeheur, welches, seine Räthsel für unauflösbar haltend, sich vom Felsen herabstürzte, als Oedipus ohne große Mühe eines derselben gelöst hatte. Themis, die Göttin der Gerechtigkeit. Sie gab sich mit Orakeln ab, welche so wenig, als die hoch- und tiefklingenden Sätze einiger großen Denker, dazu bestimmt waren, verstanden zu werden. Als die Najaden unverschämt genug waren, einen Sinn darin finden zu wollen, ließ die Göttin aus gerechter Rache die Fluren durch ein Ungeheuer verwüsten.

61 Adam. Vgl. Anm. zu Ges. 32 V. 38.

67 Elsa, ein Bach in Toskana, welcher das, was man hineinlegt, mit einer Steinrinde überzieht.

78 Man schmückt den Pilgerstab mit Palmen, zur Erinnerung an das heilige Land.

85 Wie es des Dichters ganzes Thun und Treiben, tadelt Beatrice hier auch sein Studium der scholastischen Philosophie, als nutzlos und verlockend von dem Wege der Weisheit, welche nur ein unbefangener Sinn, von einem das Höchste suchenden liebevollen Gemüth geleitet, finden kann. Möge man, wie einige Ausleger, diese Weisheit immerhin Theologie nennen. Gewiß ist es, daß der Dichter, der den Cato von Utica zum Hüter des Fegefeuers erkor, darunter eine andere Theologie versteht, als diejenige, welche damals gelehrt wurde, und daß er eben deshalb ein um so besserer Christ war.

98 In der Lethe versinkt nur die Erinnerung der Schuld. Da nun jetzt Dante sich des Weges, den er, von Beatricen sich abwendend, verfolgte, nicht mehr erinnert, so kann dies kein guter Weg gewesen sein.

103 Es war Mittag. Daß die Sonne gegen Mittag blendender glänzt, die Schatten auch sich nicht in gleichem Verhältnisse, wie vor und nachher, abkürzen und verlängern, die Sonne daher langsamer zu gehen scheint, als am Morgen und Abend, wird wohl Jeder selbst wahrgenommen haben. Eben so wird bekannt sein, daß der Meridian sich mit jeder Ortsveränderung nach Osten oder Westen verändert.

120 Mathilde hat schon im achtundzwanzigsten Gesange den Dichter von dem unterrichtet, wonach er sich jetzt erkundigt.