Uebersicht  

Das Fegefeuer.

Zweiunddreißigster Gesang.

1 Den zehenjähr'gen Durst zu löschen, hingen  1
  An ihrem Reiz die Augen, so voll Gier,
  Daß mir die andern Sinne ganz vergingen.
4 Seitwärts baut' eine Mauer dort und hier  4
  Nichtachtung auf, denn mit dem Netz, dem alten,  5
  Zog mich ihr heil'ges Lächeln hin zu Ihr.
7 Da wandten mir die himmlischen Gestalten
  Mit Macht nach meiner Linken das Gesicht,
  Mit diesem Ruf: Im Schauen Maß gehalten!
10 Nun stand ich dort, wie Einer, den das Licht
  Der Sonne mit dem Flammenpfeil geblendet,
  Und dem zunächst die Sehkraft ganz gebricht.
13 Doch als das Wen'ge sie mir neu gespendet -   13
  Nach jenem Vielen wenig und gering,
  Von dem ich mit Gewalt mich abgewendet -
16 Da sah ich, das ruhmvolle Kriegsheer fing
  Sich rechts zu kehren an, indem's den Lichten,
  Den sieben, nach der Sonn' entgegenging.
19 Wie, wenn die Schaaren auf den Sieg verzichten,
  Sie unterm Schild sich mit der Fahne drehn,  20
  Eh' sie, geschwenkt, sich ganz zum Rückzug richten,
22 So war die Schaar des Himmelreichs zu sehn,
  Und eh' sich um des Wagens Deichsel legte,
  Sah man den Zug vor und vorüber gehn.
25 Die sieben Frauen rechts und links, bewegte  25
  Der Greif die heil'ge Last mit stiller Macht,
  So daß an ihm sich keine Feder regte.
28 Ich, Statius, Sie, die mich zur Furt gebracht,
  Wir leiteten dem Rade nach die Schritte,
  Das umgeschwenkt den kleinern Bogen macht.
31 So ging es durch den hohen Waldes Mitte,
  Oed', weil der Schlang' einst Eva Glauben gab,  32
  Und Engelsang gab Maß für unsre Tritte.
34 Dreimal so weit nur, als ein Pfeil herab
  Vom Bogen fliegt, war nun der Zug gekommen,
  Und Beatrice stieg vom Wagen ab.
37 "Adam!" so ward ein Murmeln rings vernommen,
  Und einen Baum von Laub und Blüthen leer,  38
  Umringt' im Kreise nun die Schaar der Frommen.
40 Sein Haar verbreitet sich so mehr, je mehr  40
  Er aufwärts steigt, hoch, daß er selbst den Indern
  Durch seine Höhe zum Erstaunen wär'.
43 "Heil dir, o Greif, mit deinem Schnabel plündern  43
  Willst du nicht diesen Baum, der Süßes zwar
  Dem Gaumen giebt, doch Marter dann den Sündern."
46 So rief rings um den starken Baum die Schaar.
  Une Er, in dem sich Leu und Aar verbunden:
  "So nimmt man jedes Rechtes Samen wahr."
49 Die Deichsel, wo sie ziehend ihn gefunden,  49
  Schob er zum öden Stamm, und ließ am Baum,
  Aus ihm entnommen, sie an ihn gebunden.
52 Wie unsre Pflanzen, wenn zum Meeressaum  52
  Das große Licht sich senkt, von dem umschlossen,
  Das nach den Fischen glänzt am Himmelsraum,
55 Sich üppig blähn zu neuen jungen Sprossen,
  Jede gefärbt nach der Natur Gebot,
  Eh' Sol den Stier erreicht mit seinen Rossen;
58 So, mehr als Veilchen zwar, doch minder roth  58
  Als Rosenglut, erneute sich die Pflanze,
  Die erst verwais't erschien und kahl und todt.
61 Und wie sie nun erblüht' im neuen Glanze,
  Ertönt' ein nie gehörter Lobgesang,
  Doch nicht ertrug mein müder Sinn das Ganze.
64 Könnt' ich euch malen, wie, mit süßem Klang  64
  Von Pan und Syrinx, einst Merkur den Späher,
  Den unbarmherz'gen, zum Entschlummern zwang,
67 So zeigt' ich, wie nach einem Urbild, eher
  Wie jener Sang in Schlummer mich gebracht,
  Doch das Entschlummern sing' ein bess'rer Seher.
70 Ich springe bis zur Zeit, da ich erwacht,
  Da mir ein Glanz zerriß den dunkeln Schleier,
  Und eine Stimme rief: Steh auf, hab' Acht!
73 Wie zu der Blüth' des Baums, deß Aepfel theuer  
  Den Engeln sind, den nichts erschöpfen kann,
  Der Speise giebt zur ew'gen Hochzeitfeier,
76 Geführt, Jacobus, Petrus und Johann
  Aus ihrer Ohnmacht bei dem Wort erstanden,
  Bei dessen Klang wohl tiefrer Schlaf entrann,
79 Und nun vermindert ihre Schule fanden,
  Denn Moses und Elias waren fort,
  Und ihren Herrn in anderen Gewanden;  73-81
82 So ich - und über mich gebogen dort
  Stand jetzt die Schöne, wie um mein zu hüten,  83
  Die mich geführt entlang des Flusses Bord.
85 ""Wo ist Beatrix?"" rief ich, und mir glühten
  Vor Angst die Wangen. "Auf der Wurzel," sprach
  Die Schöne, "sitzt sie unter neuen Blüthen.
88 Sieh hin, wer sie umgiebt. Dem Greifen nach  88 ff.
  Entflohn empor die Anderen, mit Sange,
  Der süßer, tiefer klang, als dort am Bach."
91 Ob sie noch mehr gesprochen und wie lange,
  Nicht weiß ich es, denn mir im Auge stand
  Sie, die mein Ohr versperrte jedem Klange.
94 Sie saß allein auf jenem reinen Land,
  Wie's schien, zur Hut des Wagens dort gelassen,
Den an den Baum der Zweigestalt'ge band.
97 Die sieben Nymphen sah ich sie umfassen,
  Im Kreis die Lichter haltend, die vom Zwist  98
  Des Nord- und Südwinds nie sich löschen lassen.
100 "Als Fremdling weilst du dort nur kurze Frist,  100
Und wirst mit mir als ew'ger Bürger bleiben
In jenem Rom, wo Christus Römer ist.
103 Zum Heil der Welt mit ihrem bösen Treiben
  Schau auf den Wagen, um, was du gesehn,
Zurückgekehrt, den Menschen zu beschreiben."
106 Beatrix sprach's - wie konnt' ich widerstehn?
Ganz so, wie's der Gebieterin gefallen,
Ließ ich voll Demuth Geist und Auge gehn.
109 Nicht sah man je so schnell aus Himmels Hallen,
Aus dichter Wolk', ein flammendes Geschoß,
Den Blitz aus fernster Höhe niederfallen,
112 Als auf den Baum Zeus' Vogel niederschoß,  112
Nicht wühlend blos in Blüthen und in Blättern,
Die Rind' auch brechend, die sein Mark umschloß.
115 Dann sah man ihn zum Wagen niederschmettern,
Der bei dem Stoße rechts und links sich bog,
Gleich einem Schiff im Kampf mit wilden Wettern.
118 Dann war ein Fuchs, der jähen Sprunges flog,  118
Ins Inn're selbst des Wagens eingebrochen,
Wohin ihn Gier nach bess'rer Speise zog.
121 Doch mit dem Vorwurf deß, was er verbrochen,
Trieb meine Herrin ihn so eilig fort,
Als laufen konnten seine magern Knochen.
124 Und nochmals stürzte von dem hohen Ort,  124 
Wie schon vorhin, der Adler in den Wagen,
Und ließ ihm viel von seinen Federn dort.
127 Und wie aus banger Brust der Laut der Klagen,
Klang aus dem Himmel eine Stimm' und sprach:
"Mein Schifflein, schlechte Ladung mußt du tragen!"
130 Und unten, zwischen beiden Rädern, brach  130
Der Erde Grund, ausspeiend einen Drachen,
Der nach dem Wagen mit dem Schwanze stach.
133 Dann zog er ihn zurück, wie's Wespen machen,
  Nahm einen Theil des Bodens mit und schien,
  Von dannen eilend, des Gewinns zu lachen.
136 Der Rest des Wagens blieb, doch sah man ihn  136
  Mit Federn, die wohl reiner Sinn gespendet,
  Wie üppig Land mit Gras sich überziehn.
139 Und dieses Werk war so geschwind vollendet,
  Und voll die Deichsel und das Räderpaar,
  Bevor die Brust ein O! und Ach! beendet.
142 Und Häupter trieb, als er verwandelt war,  142
  Der Wagen vor, an den vier Ecken viere,
  Drei aber nahm man auf der Deichsel wahr,
145 Die letzten drei gehörnt wie die der Stiere,
  Die ersten vier mit einem Horn versehn;
  So glich er nie geschautem Wunderthiere.
148 Und sicher, wie auf Bergen Schlösser stehn,
  Saß eine zügellose Hure drinnen,  149
  Und ließ umher die flinken Augen spähn.
151 Und, gleich als solle sie ihm nicht entrinnen,
  Stand ihr zur Seit' ein Ries' und diese Zwei  152 ff.
  Sah ich sich küssen und sich zärtlich minnen.
154 Allein, weil sie die Augen gierig frei
  Auf mich gewandt, schlug sie der wilde Freier
  Vom Kopf zum Fuß mit wüthendem Geschrei.
157 Drauf löst er ab vom Baum das Ungeheuer,
  Von Argwohn voll und wildem Zorn und Arg,
  Und zog es durch den Wald, deß dichter Schleier
160 Die Hure sammt dem Wunderthier verbarg.

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Dreiunddreißigster Gesang

Erläuterungen:

1 Beatrice war, wie in der Einleitung S. 10 bemerkt ist, im Jahre 1290 gestorben, folglich dem Dichter, der seine Reise in das Jahr 1300 verlegt, seit zehn Jahren entrissen.

4 Nur auf Beatricen sah der Dichter. Alles, was auf beiden Seiten außer ihr war, wurde ihm, da er es ganz unbeachtet ließ, wie durch eine Mauer verborgen.

5 Noch ist der Dichter nicht so vorbereitet, um ununterbrochen den Glanz des höchsten Lichtes zu ertragen, und noch soll er, wie die Folge zeigt, durch das, was ihn umgiebt, Belehrung erhalten. Daher die Erinnerung V. 7.

13 Der Glanz der ganzen Erscheinung, der schwach war neben dem Glanze, den Beatricens Antlitz verbreitete.

20 Beim Umschwenken des Wagens macht, wie der Augenschein lehrt, dasjenige Rad den kleinern Bogen, das sich auf der Seite befindet, nach welcher hin umgeschwenkt wird. Nach V. 16 wandte der Zug sich rechter Hand. Dante befand sich daher mit seinen Begleitern auf der rechten Seite des Wagens, an welcher nach Gesang 29 V. 121 die drei geistlichen Tugenden ihren Stand hatten.

25 Wenn die Kirche von den geistlichen und weltlichen Tugenden umgeben ist, leitet der Geist Christi sie still vorwärts, ohne daß eine äußere Anstrengung nothwendig ist.

32 Das irdische Paradies ist jetzt verödet, weil Eva sich von der Schlange verführen ließ.

38 An diesem Baum knüpft wahrscheinlich der Dichter mehrfache Ideen. Zunächst stellt derselbe unstreitig den Baum der Erkenntniß des Guten und Bösen dar, von welchem zu essen Gott dem ersten Menschen untersagte. Dies zeigt schon die Erinnerung an Eva V. 32 und an Adam V 37, und Ges. 33 V. 61, die beide von der verbotenen Frucht genossen. Aber die höhere geheimnißvolle Erkenntniß führt von selbst auf die Idee der Kirche, noch mehr das Verbot, die Früchte des Baumes nicht als irdische Nahrung zu genießen. Wir sehen daher ferner in dem Baume die Kirche, und zwar, wie sie damals war, entblättert und beraubt, weil ihre Diener, jenem Verbote zuwider, mehr nach ihren weltlichen Früchten, als nach ihrem höhern Zwecke strebten. - Weil aber, wie der Dichter in der Hölle Ges. 2 V. 22 angiebt, Rom nur gestiftet wurde, um den Mittelpunkt der Kirche, nämlich den Sitz für den Nachfolger Petri zu begründen, so sehen wir endlich in dem Baume die römische Kirche und Rom selbst. Dies alles ergiebt sich folgerecht und deutlich aus dem Zusammenhange, daß man kaum begreift, wie die Commentatoren hier zu so vielen Zweifeln gekommen sind.

40 Sein Haar - d. i. sein Laub, folglich seine Aeste. An ihnen und ihren verschiedenen Stufen möge man die kirchlichen Würden erkennen, deren niedrigste von geringem Umfange sind, die sich aber um so mehr ausdehnen, je mehr sie sich dem Gipfel der Hierarchie nähern. - Auch wenn man in dem Baume nur den der Erkenntniß sieht, wird man die nach oben hin immer mehr sich verbreitenden Aeste leicht zu deuten wissen.

43 Christus, als Mensch, benutzte den Baum nicht, um irdische Speise davon zu brechen. Nur durch die Beobachtung dieses Verbots ist, wie Christus ausspricht, der Same alles Rechts zu wahren, der in dem Gebote liegt: Gebt Gotte was Gottes und dem Kaiser was des Kaisers ist. Denn indem die Päpste den Baum bestehlen, den Gott nur für sich geschaffen hat, (vergl. Ges. 33 V. 60), geben sie nicht Gotte was Gottes ist, und entziehen, im Streben nach weltlichen Genüssen, hauptsächlich nach irdischer Macht, dem Kaiser was des Kaisers ist.

49 Christus selbst bindet den Wagen (den päpstlichen Stuhl) wieder an den Baum, der darauf plötzlich erblüht und grünt. - Bonifaz der Achte war, wie der Dichter uns im neunzehnten Gesange der Hölle erzählt, nicht durch rein kirchliche Mittel, sondern durch Simonie zum päpstlichen Stuhle gelangt, und sehr gierig nach den Früchten jenes Baumes. Unter seiner Regierung mußte daher der Baum wohl veröden. Nach Bonifaz folgte der gutartige und friedliebende Benedict der Eilfte, welchen der Dichter ehrt, indem er nicht ihn, sondern seinen Nachfolger, Clemens den Fünften, bestimmt, den Bonifaz in dem höllischen Loche abzulösen, und dadurch stillschweigend ausdrückt, daß Benedict nicht durch Simonie, sondern durch Gottes Ruf zum heiligen Stuhle gelangt sei. - Vielleicht hat der Dichter, indem er von Christus selbst den Wagen an den Baum wieder anbinden läßt, an Benedicts kurze Regierung gedacht. Wie er aber überall das Besondere mit dem Allgemeinen zu verbinden und durch wenig Worte im Geiste des productiven Lesers mannigfachen Ideen zu erwecken weiß, so leitet er auch hier auf den allgemeinen Gedanken, daß Rom und das römische Reich durch den heiligen Stuhl ein neues und höheres Leben erlangt habe. Daß die Deichsel des Wagens - des päpstlichen Stuhls - aus diesem Baume entnommen, aus dem Holze desselben gefertigt ist (V. 50), wird nach obigen Erläuterungen ebenfalls klar sein.

52 Der Widder, in welchem die Sonne beim Beginnen des Frühlings steht, folgt hinter dem Zeichen der Fische.

58 Die Farbe des Bluts, die an den Ursprung und den Grund der Kirche erinnert.

64 Argus, welchen die eifersüchtige Juno zum Wächter der Io bestellt hatte, wurde von Merkur durch das Märchen von Pan und Syrinx eingeschläfert. - Der Schlaf in welchen hier der Dichter fällt, ist nicht zufällig und zwecklos, Er giebt ihm Gelegenheit, schicklich von dem besondern Ereignisse, das er, wie der Ueberzetzer glaubt, V. 49. ff. bezeichnen wollte, abzubrechen, um auf die früheren Drangsale der Kirche und die Ursachen ihrer Verdorbenheit abzuspringen, und diesen Stoff zu verfolgen, bis er auf die Verlegung des päpstlichen Stuhls nach Avignon unter Clemens dem Fünften, dem Nachfolger Benedicts, übergeht, und den Wagen, welchen der Greif an den Baum angebunden hatte, durch den Riesen wieder abbinden läßt.

73-81 Der Baum ist der Apfelbaum des hohen Liedes Kap. 2. V. 3, unter welchem die Ausleger den Heiland verstanden wissen wollen. Die ganze Stelle weiset auf die Verklärung Christi hin, wie sie von Mätthäus Kap. 17 erzählt wird.

83 Die Schöne, Mathilde.

88 ff. Nachdem Christus mit seinem Gefolge sich zum Himmel erhoben, ist die Glaubensweisheit mit den sieben Tugenden zur Hut des Baumes und des Wagens geblieben, und zwar auf der Wurzel des Baumes sitzend - denn die Wurzel, der Grund der Kirche, wird, wie sehr diese auch selbst durch Entartung erschüttert werden möge, nie von ihr verlassen sein. Sie zeigt dem Dichter die früheren Bedrängnisse der Kirche und prophezeiet ihm die künftigen, die dadurch entstehen, daß die Päpste sich jener Weisheit verschließen. Darum eben hat auch Christus den Wagen verlassen.

98 Die sieben Gaben des heiligen Geistes, welches hier an der Wurzel des Baumes nicht fehlen, wo der Glaube und die geistlichen und weltlichen Tugenden sich vereinigen.

100 Auf der Erde, wohin der Dichter bald zurückkehren, und wo er das, was er nun sehen wird, verkünden soll.

112 Der Vogel des Zeus, der Adler, Symbol des römischen Reichs. Hiermit sind die Verfolgungen angedeutet, welche in den ersten Jahrhunderten des Christenthums die Kirche von den römischen Kaisern zu erleiden hatte, und die Erschütterung des von Petrus selbst begründeten apostolischen Stuhls.

118 Ein Fuchs, die Ketzerei, welche, wie der Dichter in der Hölle Ges. 11 V. 8 erzählt, durch Anastas den päpstlichen Stuhl selbst listig einzunehmen wußte, die aber hier von der echten Glaubensweisheit wieder vertrieben wird.

124 Die Federn, welche der Adler auf dem Wagen läßt, sind die weltlichen Güter, welche die späteren christlichen Kaiser dem Papst verliehen. Daß diese Federn "eine schlechte Ladung für den Wagen sind" spricht Dante überall, wenn auch nicht mit so bestimmten Worten aus. Um so unwahrscheinlicher wird es aber, daß er mit der Mathilde, die ihn hierher begleitet hat, die Markgräfin Mathilde von Toskana gemeint haben sollte, da dieselbe jene schlechte Ladung selbst sehr vermehrt hatte. Denn schon im Jahre 1077 war von ihr, für den Fall, daß sie ohne Kinder verstürbe, ihr gesammtes sehr bedeutendes Eigenthum der römischen Kirche geschenkt worden. Die Echtheit einer im Jahre 1102 erneuerten Schenkung ist zwar bezweifelt, die Unechtheit aber nicht bewiesen worden. Und wirklich wußte Papst Innocenz der Dritte ungeachtet aller Gegenansprüche im Jahre 1198 in den Mathildischen Erbgütern die Huldigung als souveräner Landesherr zu erlangen. Vergl. Anm. Ges. 28 V. 40.

130 Dieser Drache ist wahrscheinlich Mahomet, welcher dem römischen Stuhle und der Kirche selbst bekanntlich einen großen Theil der denselben früher ergeben gewesenen Länder entzog. Vielleicht ist auch die Trennung der orientalischen Kirche von der occidentalischen angedeutet.

136 Obgleich sich der Umfang der päpstlichen Wirksamkeit durch die Ereignisse vermindert hatte, wußten die Päpste doch jene ersten durch die Freigebigkeit der Kaiser ihnen verliehenen Güter so zu vermehren, daß ihre Würde immer mehr von dem nach dem Sinne ihrer Stiftung ihr eigenthümlichen Charakter verlor, und dafür einen ganz fremdartigen annahm.

142 Wie die Päpste sich in einen Besitz gesetzt hatten, der ihrer Würde fremd war und ihr nicht ziemte, so mußten sie auch unziemende Mittel anwenden, um ihn zu vertheidigen. Die sieben Häupter deuten nach sehr wahrscheinlicher Meinung der Ausleger auf die sieben Sacramente, die zehn Hörner auf die zehn Gebote. Die Geschichte der Päpste zeigt, auf welche weltliche Art, im schlechtesten Sinne des Worts, die Mehrzahl der Päpste des Mittelalters diese geistlichen Waffen anwandten, um, nicht die ihnen zukommende geistliche Gewalt, sondern die ungebührlich erworbene weltliche Macht zu vertheidigen. - Man hat es neuerlich einigen älteren Auslegern sehr übel genommen, daß sie geglaubt haben, Dante verstehe unter den sieben Häuptern, mit welchen der Wagen bewaffnet ist, die sieben Todsünden. Der ehrliche Hadrian von Utrecht würde vielleicht, wenn er überhaupt den Dante und seine Ausleger gelesen hätte, diesen Unwillen nicht getheilt haben. Auch zeigt das, was Boccaccio in der zweiten Novelle des ersten Tages vom römischen Hofe erzählt, keineswegs, daß den Zeitgenossen des Dichters eine solche Idee sehr befremdend gewesen sein würde.

149 Dies ist ganz unstreitig das Papstthum, wie es nach und nach geworden war, sich hingebend zu dem Schändlichsten um schnöden Gewinns willen. Diese Bezeichnung ist allein hinreichend, jene älteren Commentatoren zu entschuldigen.

152 ff. Der Riese ist ebenso unzweifelhaft Philipp der Schöne von Frankreich, durch dessen Einfluß der Sitz des Papstes eine Zeitlang nach Avignon verlegt wurde. Er züchtigt seine Buhlerin, weil sie doch noch von Zeit zu Zeit, besonders vor der Entführung nach Frankreich, lüstern auf die Ghibellinen sah, um zu forschen, ob nicht auch von ihnen ein Vortheil zu erlangen sei. Wie Philipp der Schöne Bonifaz den Achten behandeln ließ, weil dieser, wie der König vermuthete, den deutschen König Albrecht gegen ihn zum Kriege reizen wollte, ist oben bereits erzählt worden. (Vergl. Anm. zum 20. Ges. V. 58.) Uebrigens mögen vielleicht viele Leser die Bemerkung machen, daß das irdische Paradies nicht der schickliche Ort sei, um die Erscheinung der höchsten Verderbniß der Kirche darzustellen. Wir wissen, wenn wir die moralische Construction des Gedichts betrachten, dieses Bedenken nicht zu erledigen. Gewiß ist es aber auch, daß diese Darstellung der verdorbenen Kirche eben hier, hinter der reinen und triumphirenden, auf die Zeitgenossen den lebendigsten Eindruck machten mußte, und daß in dieser Beziehung kein schicklicherer Ort dafür gefunden werden konnte.