Uebersicht   

Das Fegefeuer.

Dreizehnter Gesang.

1 Wir waren auf dem Gipfel jener Stiegen,
  Wo sich des Berges zweiter Abschnitt zeigt,
  Des Bergs, der läutert, die hinauf gestiegen.
4 Hier, wo man auf den zweiten Vorsprung steigt,
  Der, gleich dem ersten, rings die Höh' umwindet,
  Nur daß sein Bogen noch sich schneller neigt,  6
7 Hier ist kein Bild, und jedes Zeichen schwindet ,
  Daher man glatt den Weg und das Gestad
  Von des Gesteins schwarzgelber Farbe findet.
10 "Dafern wir harrten, bis der Führer naht,"   10
  So sprach Virgil darauf, "hier säumig stehend,
  So wählten wir zu spät wohl unsern Pfad."
13 Dann macht' er, festen Blicks zur Sonne sehend,
  Für die Bewegung seinen rechten Fuß
  Zum Mittelpunkt, sich mit dem linken drehend.
16 "O süßes Licht, du flößest den Entschluß  16
  Zum neuen Weg mir ein, du führ' uns weiter,"
  Begann er, wie ein treuer Führer muß.
19 "Du wärmst die Welt, du magst sie hell und heiter!
  Nie wandle man, wenn sich dein Glanz verhehlt,
  Drängt nicht die Noth, und Er sei unser Leiter."
22 So viel man hier auf eine Miglie zählt,
  So weit schon gingen wir auf jenen Pfaden
  In wenig Zeit, vom regen Trieb beseelt.
25 Ein Geisterzug flog längs den Felsgestaden,
  Gehört, doch nicht gesehen herbei, und schien
  Zum Tisch der Lieb' uns freundlich einzuladen.
28 Der erste Geist rief im Vorüberfliehn:
  Sie haben keinen Wein! Die Worte klangen
  Dann nochmals hinter uns im Weiterziehn.
31 Und eh' sie, sich entfernend, ganz verklangen,
  Da rief: Ich bin Orest! - ein zweiter Geist,
  Und war im schnellen Flug vorbeigegangen.
34 ""O,"" sprach ich, ""Vater, sage, was dies heißt?""
  Da klang die dritte Stimm' in meine Frage,
  Und rief: Liebt den, der Böses euch erweist.  28-36
37 Und Er: "Du findest hier des Neides Plage!  37
  Gegeißelt wird er hier, doch Liebe schwingt
  Der strengen Geißel Schnur zu jedem Schlage.
40 Doch wisse, daß der Zügel anders klingt.
  Du wirst ihn hören, eh' im Weitergehen
  Dein Fuß zum Passe der Verzeihung dringt.
43 Versuch' es jetzo, scharf dorthin zu spähen,
  Und vor uns wirst du Leute, lang gereiht,
  Entlang der Felsenhöhlung sitzen sehen!"
46 Da öffnet' ich sogleich die Augen weit,
  Und sah die Schatten an der Felsenhalle,
  An Farbe dem Gesteine gleich ihr Kleid.
49 Und, näher, hört' ich sie mit lautem Schalle
  "Bitte für uns Maria!" brüstig schrei'n,
  "Michael und Petrus, und ihr Heil'gen Alle!"
52 Möcht' Einer noch so hart und grausam sein,
  Vor Mitleid wäre doch sein Herz entglommen ,
  Hätt' er, wie ich, gesehn der Armen Pein.
55 Denn als ich nun so nahe hingekommen,
  Daß ich Geberd' und Angesicht erkannt,
  Da ward mein Herz durch's Auge schwer beklommen,
58 Ihr Anzug war ein schlechtes Bußgewand; 58
  Sie lehnten sich an sich und ihren Rücken
  Sie allesammt an jene Felsenwand;
61 Den Blinden gleich, die Noth und Hunger drücken,  61
  Und die an Ablaßtagen bettelnd stehn,
  Und, Kopf an Kopf gedrängt, sich kläglich bücken,
64 Indem sie, um das Mitleid zu erhöhn,
  Nicht minder mit den jämmerlichen Mienen,
  Als mit den lauten Jammerworten flehn.
67 Und, gleich den armen Blinden, war auch ihnen
  Den bangen Schatten, welchen ich genaht,
  Der Glanz des Himmelslichts umsonst erschienen.
70 Gebohrt war durch die Augenlieder Draht,
  Ihr Auge, wie des Sperbers, ganz vernähend, 71
  Der, wild, nicht nach des Jägers Willen that.
73 Mir aber schien es Unrecht, daß ich sehend,
  Doch ungesehn dort ging, drum wandt' ich mich
  Zum weisen Rath, nach seiner Meinung spähend.
76 Er, der sogleich errieth, weswegen ich
  Noch stumm, auf ihn die Blicke fragend lenkte,
  Sprach: "Rede jetzt, doch kurz und sinnig sprich."
79 An jener Seite, wo der Fels sich senkte,  79
  Ging mir Virgil, wo leicht zu fallen war,
  Weil keine Brustwehr dort den Rand verschränkte;
82 Zur andern Seite saß die fromme Schaar
  Und durch die grause Naht gepreßte Zähren,
  Die ihre Wangen netzten, nahm ich wahr.
85 ""Ihr, sicher, euch im Lichte zu verklären,""
  Begann ich nun, ""das einzig euer Traum,
  Das einzig euer Wunsch ist und Begehren,
88 Die Gnade lös' euch des Gewissens Schaum,  88
  Und mache drin auf reinem lauterm Grunde
  Der Seele klaren Fluß zum Strömen Raum.
91 Doch bitt' ich euch, gebt mir gefällig Kunde:
  Ist eine Seel' aus Latium hier? - Ich bin
  Für sie vielleicht dann hier zur guten Stunde.""
94 "O Bruder, jede Seel' ist Bürgerin
  Von einer wahren Stadt - doch willst du fragen,
Ob ein' in Welschland lebt als Pilgerin."   94-96
97 So schien's von mir noch etwas fern zu sagen,
  Daher ich, weil ich fast das Wort verlor,
  Sogleich beschloß, mich weiter vor zu wagen.
100 Und Eine wartete, so kam mir's vor,
Auf Antwort, und, um's deutlicher zu zeigen,
Hob sie, dem Blinden gleich, das Kinn empor.
103 ""Du,"" sprach ich, ""die sich beugt, um aufzusteigen,
  Warst du's, die Antwort gab, so magst du mir
Jetzt deinen Ort und Namen nicht verschweigen.""
106 "Ich war von Siena, und mit diesen hier,"
So sprach sie, "läutr' ich mich vom Lasterleben
Und weinend flehn um Gottes Gnade wir.
109 Sapia hieß ich, ob ich gleich ergeben   109
Der Thorheit war, denn mir schien Andrer Leid
Weit größre Lust, als eignes Glück zu geben.
112 Doch zweifelst du an meinem tollen Neid,

So höre nur! - Die Jugend war verflossen,

Und abwärts ging der Bogen meiner Zeit,
115 Als nah' bei Colle meine Landsgenossen
Den kampfbereiten starken Feind erreicht;
Da bat ich Gott um das, was er beschlossen.
118 Drauf wird ihr Heeer geschlagen und entweicht,   118
Und ich, erblickend, wie der Feind es jage,
Fühl' eine Lust, der keine weiter gleicht,
121 So daß ich kühn den Blick gen Himmel schlage,
Und rufe: Gott, nicht fürcht' ich mehr dich jetzt!
Der Amsel gleich am ersten warmen Tage.  123
124 Nach Gottes Frieden sehnt' ich mich zuletzt
Am Rand des Lebens, aber meine Schulden
Durch Reue wären sie nicht ausgewetzt,
127 Wenn Pettinagno meiner nicht in Hulden  127
Gedacht in seinem heiligen Gebet;
Noch müßt' ich vor dem Thore harrend dulden.
130 Doch wer bist du, der offnen Auges geht,
So scheint's, um unsern Zustand zu erkunden,
Und dessen Athem noch beim Sprechen weht?"
133 ""Mit Draht wird einst mein Auge hier durchwunden,"" 133
So sprach ich, ""doch ich hoffe kurze Frist,
Weil man's nur selten scheel vor Neid gefunden.
136 Mehr als das Leid, ob deß du traurig bist,
Hat Sorge mir die untre Qual bereitet.
Schon fühl' ich, wie die Bürde drückend ist.""
139 Und Sie:"Wer also hat dich hergeleitet,
Daß du, um rückzukehren, hier erscheinst?"
""Er, der dort schweigend steht, hat mich begleitet.
142 Ich leb', erwählter Geist, und wenn ich einst
Jenseits als Sterblicher für dich bewegen
Die Füße soll, so fordre, was du meinst.""
145 "So Neues sagtest du," sprach Sie dagegen,
"Daß es dir sicher Gottes Huld bewährt.
Verwende drum dein Flehn zu meinem Segen.
148 Ich bitte dich, bei Allem, was dir werth,
  Wirst du dich je im Tuscier-Land befinden,
  So sei zum Bessern dort mein Ruf gekehrt.
151 Beim eiteln Volk wirst du die Meinen finden,  151
  Das Talamon verlockt zum Hoffnungswahn;
  Und wie bei Diana's Quelle wird er schwinden,
154 Doch setzen mehr die Admirale dran."

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Vierzehnter Gesang

Erläuterungen:

6 Weil der Berg nach oben zu pyramidenförmig sich abspitzt, muß in jedem höhern Kreise der Bogen kürzer werden, und daher, wie auch das Original sehr bezeichnend sich ausdrückt, sich schneller beugen (più tosto si piega).

10 Nicht des äußern Anlasses sollen wir warten, um weiter vorwärts zu schreiten. Aus uns selbst muß der Antrieb dazu kommen, wo er durch das Licht erzeugt wird. Der äußere Anlaß kann oft ganz fehlen, wie er auch hier fehlen würde, da die Seelen dieses Kreises nicht sehen, folglich auch nicht als Führer sich den Dichtern anbieten können.

16 O süßes Licht etc. Vergl. die Anmerkung zum siebenten Gesang V. 44 und 49 ff. Das Licht vertritt hier die Stelle des Engels, welchen wir anderwärts den Dichter weiter zur Höhe emporleiten sehen.

28-36 In diesem Kreise reinigen sich die Seelen von der Sünde des Neides. Züge der entgegengesetzten Tugend, des Wohlwollens gegen Andere, werden daher hier dargestellt. Vergl. Anm. zu Ges. 10 V. 94.
Sie haben keinen Wein etc. Worte Mariens, als sie den Heiland bei der Hochzeit zu Cana bewegen wollte, die Verlegenheit des Wirths zu beendigen (Joh. 2,1.) - Ich bin Orest, unstreitig Hindeutungen auf Orests hingebende Liebe zu Pylades. - Liebt den etc. Worte Christi (Matth. 5 V. 44).

37 Gegeißelt wird der Neid. Vergl. Anm. Ges. 10 V. 28.

58 Der Neid ist im Leben blind für eignes Glück und wirft unklare scheele Blicke auf das fremde. Dem hierdurch erzeugten Seelenzustande finden wir das allerdings sonderbare Mittel der Reinigung entsprechend. Indem die Schatten gegenseitig sich in Liebe stützen, beweisen sie schon, daß sie Fortschritte in der Läuterung gemacht und erkannt haben, daß die wahren Güter um so größeres Glück geben, je Mehrere daran Theil nehmen. (Vergl. Ges. 15 V. 43 ff.) Unter dem Felsen, an welchen sie sich lehnen, kann man den Glauben an den Erlöser und die durch ihn erlangte göttliche Gnade verstehen.

61 Den Blinden gleich etc. Auch hier möge man nicht unerwogen lassen, daß die Bilder aus dem italienischen Volksleben entnommen sind.

71 Um die Sperber zu zähmen und sie zur Jagd besser abzurichten, sollen ihnen, wenn sie unruhig waren, die Augenlieder auf einige Zeit zugenäht worden sein. Virgil (die Vernunft) geht dem Dichter auf derjenigen Seite, wo er bei einem falschen Tritte leicht fallen könnte.

79 S. Anm. zu Ges. 4 V. 47.

88 Der Schaum des Gewissens, dasjenige, wodurch es unklar wird, folglich die Sünde.

94-96 Der Dichter hat gefragt: Ob Latium das Vaterland irgend eines der Schatten sei? Darauf wird ihm entgegnet: Auf Erden hat man kein Vaterland, sondern lebt nur als Pilger dort. Bürger wird man erst in der wahren Stadt, d. h. im Himmel. Vergl. Ephes. 2. 19. ("So seid ihr nun nicht mehr Fremdlinge und Beisassen, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes..."))

109 Hier ist im Original ein unübersetzbares Wortspiel: Savia non fui avegna che Sapia fossi chiamata. Diese Sapia, eine angesehene Frau von Siena, war in die Händel jener Zeit verflochten und lebte verbannt in Colle. Als dort die Sienesen von den Florentinern geschlagen wurden, bezeigte sie die größte Freude über die Niederlage ihrer verhaßten Landsleute.

118 Das, was sie gebeten, geschah; aber nicht, weil sie darum gebeten, sondern weil Gott es ohnehin beschlossen hatte.

123 In der Lombardei werden, wie Lombardi erzählt, die drei letzten Tage des Januar die Amsel-Tage genannt, weil dort um diese Zeit schon oft das schönste Frühlingswetter eintritt und die Amseln, als wäre es schon Sommer, zu singen anfangen. Nach einer sprichwörtlich benutzten Volkssage entflog eine Amsel in diesen Tagen dem Käfig, weil sie glaubte, der Frost sei ganz vorbei, und bereute ihre Flucht zu spät, als er wieder eintrat.

127 Pettinagno, ein frommer Einsiedler, dessen Gebet, wie Sapia glaubt, ihr schneller die Zulassung zur Läuterung erwirkt hat, weil sie ohne dieses Gebet, wegen zu lange versäumter Reue, noch vor der Pforte des Fegefeuers harren müßte.

133 Ganz frei vom Neide fühlt sich der Dichter nicht. Weit mehr aber weiß er sich der Sünde des Hochmuths schuldig.

151 Daß der Dichter das Volk von Siena für sehr eitel hält, hat er uns schon in der Hölle Ges. 29 V. 121 entdeckt, und bestätigt es hier durch ein besonderes Beispiel. Als nämlich die Sanesen Talamon, Schloß und Hafen an der Maremma, erobert hatten, glaubten sie dadurch bald eine gewaltige Seemacht zu werden und den Genuesern und Pisanern Trotz bieten zu können. Diejenigen, welche hoffen konnten, Admirale dieser erträumten Seemacht zu werden, verwandten zur Unterstützung des Unternehmens ihr eigenes Vermögen. Aber diese Hoffnung war so eitel, als die auf einen Strom, von welchem sie glaubten, daß er bei ihrer Stadt unter der Erde wegliefe, und welchem sie mit großen Kosten vergeblich nachgruben.