Uebersicht

Das Fegefeuer.

Sechster Gesang.

1 Wenn Spieler sich vom Würfelspiel entfernen,
Bleibt, der verlor, betrübt und ärgerlich,
Und wirft und wirft, um's besser zu erlernen,
4 Doch Alles drängt um den Gewinner sich.
Der folgt, und sucht, wie er sein Kleid erlange,
Ein andrer, seitwärts spricht: Gedenk' an mich!
7 Doch er verweilt nicht, hört auf Keinen lange,
Und wem er etwas giebt, der macht sich fort;
So kommt er los vom lästigen Gedrange.
10 So war ich in dem dichten Haufen dort,
Und mußte hier - den Kopf und dorthin wenden,
Und lös'te mich durch manch' Verheißungswort;  1 - 12
13 Sah Benincasa, der den Wüthrichs-Händen  13
Des Ghin' erlag, und sah darauf auch ihn,  14
Deß Loos war, jagend in der Flut zu enden.
16 Novello bat mich flehend, zu verziehn;  16
Auch der von Pisa dann, durch den der gute,  17

Der wackere Marzucco stark erschien.

19 Graf Orso auch und der im Frevelmuthe  19
Vertilgt ward, wie er sagt', aus Neid und Groll,
Nicht weil auf ihm ein schwer Verbrechen ruhte,
22 Den Broccia mein' ich  -  mag sich demuthsvoll
Zur Reue die Brabanterin bequemen,
Wenn sie zu schlechterm Troß nicht kommen soll.  19-24
25 Kaum war ich frei von allen jenen Schemen,
Die dort mich angefleht, zu flehn, daß sie
Zur Heiligung mit größrer Eile kämen;
28 Da sprach ich: ""Du, der stets mir Licht verlieh,
Hast irgendwo in deinem Werk geschrieben,
Den Schluß des Himmels beuge Flehen nie,
31 Doch hörtest du, wozu mich diese trieben.
Täuscht nun vielleicht die Hoffnung diese Schaar?
Ist unklar mir vielleicht dein Sinn geblieben?""
34 "Nicht täuscht sie Hoffnung, und mein Wort ist klar,"
So sprach er drauf, "du magst es nur betrachten
Mit hellem Geist, so wird dir's offenbar.
37 Ist für gebeugt das strenge Recht zu achten,
Wenn das erfüllt der Liebe heißer Trieb,
Was Jenen oblag und sie nicht vollbrachten?
40 Da, wo ich jenen Grundsatz niederschrieb,
Da sühnte man durch Bitten keine Sünden,
Weil ungehört von Gott die Bitte blieb.  28-42
43 Doch kannst du jetzt so Tiefes nicht ergründen,
So harr' auf sie, die zwischen deinem Geist
Und ew'ger Wahrheit wird ein Licht entzünden.
46 Beatrix ist's, wenn du's vielleicht nicht weißt,
Die Lächelnde, Beglückte, die zu sehen
Des hohen Berges Gipfel dir verheißt.
49 Und ich: ""Mein Meister, laß und schneller gehen!   49
Mir kehrt die Kraft, die kaum noch unterlag,
Und sieh, schon werfen Schatten jene Höhen.""
52 "Wir gehn so weit als möglich diesen Tag,"
Entgegnet' Er, "doch Andres wirst du finden,  53
Als eben jetzt dein Geist sich denken mag.
55 Die Sonne, deren Strahlen jetzt verschwinden,
So, daß zugleich dein Schatten flieht, sie kehrt,
Bevor wir uns empor zum Gipfel winden.
58 Doch eine Seele sieh, uns zugekehrt,
Allein, betrachtend wie du dich bewegtest,
Gewiß, daß sie den nächsten Weg uns lehrt."
61 O Geist von Mantua, wie du lebend pflegtest,  61
So bliebst du stolzen, strengen Angesichts,
Indem du langsam ernst die Augen regtest.
64 Er ließ uns Beide gehn und sagte nichts,
Gleich einem Leu'n, der ruht, uns still betrachtend
Mit scharfem Strahle seines Augenlichts.
67 Allein Virgil, nur nach der Höhe trachtend,
Befragt' ihn: "Wo erklimmt man diese Wand?"
Doch Jener, nicht auf seine Fragen achtend,
70 Fragt' uns nach unserm Leben, unserm Land.
Und: "Mantua"  -  begann nun mein Begleiter;
Da hob der Schatten, erst in sich gewandt,
73 Sich schnell vom Sitz und ward theilnehmend heiter.
"Sordell bin ich, dein Landsmann!" rief er aus,
Und, selbst umarmt, umarmt' er meinen Leiter.  -  75
76 Italien, Sclavin, Schlund voll Schmerz und Graus,  76
Schiff ohne Steuer auf durchstürmten Meeren,
Nicht Herrscherinn der Welt, nein Hurenhaus;
79 Wie sah ich jenen Schatten dort, den hehren,
Beim süßen Klange seiner Vaterstadt
Hereilen, um den Landsmann froh zu ehren.
82 Doch deine Lebenden sind nimmer satt,
Im tollen Kampf sich wechselweis zu morden,
Selbst die umschlossen eine Mauer hat.
85 Elende, such an deinen Meeresborden,
Im Innern such' und keinen Winkel letzt
Des Friedens Glück im Süden und im Norden.
88 Was hilft dir's, da dein Sattel unbesetzt,  88
Daß Justinian die Zügel dir erneute?
Ohn' ihn wär' minder deine Schande jetzt.
91 Ihr hättet längst mit frommem Sinn, ihr Leute,  91
Zu Cäsar's Sitz den Sattel eingeräumt,
Verstündet ihr, was Gottes Wort bedeute.
94 Seht, wie das wilde Thier sich tückisch bäumt,
Seit Niemand es die Sporen fühlen lassen,
Und ihr es, die ihr's zähmen wollt, entzäumt.
97 O deutscher Albrecht, der dies Thier verlassen,  97
Das drum nun tobt in ungezähmter Wuth,
Statt mit den Schenkeln kräftig es zu fassen,
100 Gerechtes Strafgericht fall' auf dein Blut,
Und neu und offen mög' es deiner warten,
Dann ist dein Folger wohl auf seiner Hut.
103 Schuld bist du sammt dem Vater an dem harten
Geschick Italiens, da ihr, deutsche Gau'n
Nur pflegend, ganz versäumt des Reiches Garten.
106 Komm her jetzt, der Montecchi Stamm zu schau'n,  106
Leichtsinn'ger, komm, sieh die Capelletten,
Die schon gebeugt, und die voll Angst und Grau'n!
109 Komm, Grausamer, die Treuen zu erretten!
Sieh, ungestraft drängt sich der schnöde Feind!
Sieh Santafior in wilder Räuber Ketten!
112 Komm her und sieh, wie deine Roma weint,
Und höre Tag und Nacht die Wittwe stöhnen,
Mein Cäsar, ach, warum nicht mir vereint?
115 Komm her und sieh, wie Alle sich versöhnen,  115
Komm her, und fühlst du dann auch Mitleid nicht,
So schäme dich, daß Alle dich verhöhnen.
118 Verzeih', o höchster Zeus im ew'gen Licht,
Der du für uns gekreuzigt wardst auf Erden,
Ist anderwärts gewandt dein Angesicht?
121 Wie? oder soll aus schrecklichen Beschwerden,
Ein neues Heil, von keinem Aug' entdeckt,
Nach deinem tiefen Rath bereitet werden?  
124 Wie voll Italien von Tyrannen steckt!  124
Will sich ein Bauer der Partei verschwören,
Gleich heißt's von ihm, Marcell sei auferweckt.
127 Du, mein Florenz, du kannst dies ruhig hören  127
Da dieser Abschweif nimmer dich berührt,
Nie ließ sich ja dein wackres Volk bethören.
130 Gerechtigkeit hegt Vieler Herz, nur spürt
Man etwas spät, wie sehr es ihr gewogen,
Indeß dein Volk sie stets im Munde führt.
133 Wenn Bürgerämtern Viele sich entzogen,
  Nimmt sie dein Volk freiwillig an und schreit:
  Seht her mich hat die Bürde krumm gebogen!
136 Nun freue dich, denn du verdienest Neid,
Du Reiche, du Friedselige, du Weise  -  
Ich red' im Ernst, die Wahrheit liegt nicht weit.
139 Man spreche von Athen und Sparta leise!
Sollt' ihr Gesetz wohl werth der Rede sein,
Wie sehr man's anpreist, neben deinem Preise?
142 Das, was du vorkehrst, ist gar dünn und fein;
Denn wenn du's im October angesponnen,
Zerreist es im November kurz und klein.
145 Wie oft hast du geendet und begonnen,
Hast über Münz' und Art, Gesetz und Pflicht,
Und Haupt und Glieder anders dich besonnen?
148 Bist du nicht völlig blind für jedes Licht,
So mußt du dich gleich einer Kranken sehen.
Ruh' findet sie auf ihren Kissen nicht,
151 Und wendet sich, den Schmerzen zu entgehen.

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Siebenter Gesang

Erläuterungen:

1-12 Um das hier vom Dichter gebrauchte Gleichniß als richtig und lebendig anzuerkennen, muß man nicht unbemerkt lassen, daß es aus dem italienischen Volksleben entnommen ist. Wer jemals das Gedränge und Geschrei in einer italienischen Weinstube wenigstens im Vorübergehen wahrgenommen hat, wird es verständlich finden.

13  Benincasa von Arezzo hatte als Stellvertreter des Podesta von Siena einen Bruder und Neffen des Ghino von Tacca hinrichten lassen, weil sie Straßenraub begangen. Aus Rache ermordete ihn Ghino und schnitt ihm den Kopf ab.

14  Cione de' Tarlati, von einer mächtigen Familie in Arezzo, welcher, die Bostoli, eine andere angesehene Familie, verfolgend, von seinem Rosse, das mit ihm durchging, in den Arno getragen ward und darin ertrank.

16  Novello, Sohn des Grafen Guido von Battisole, ward von Einem der Bostoli ermordet.

17  Der von Pisa, Guido, Sohn des Marzucco degli Storingiani, wurde von seinen Feinden ermordet. Der Vater, welcher sich als Mönch in ein Kloster hatte aufnehmen lassen, trug mit großer Geistesstärke den Tod seines Sohnes und küßte, sich vom Gebote der italienischen Sittenlehre lossagend, dem Mörder die Hand.

19  Graf Orso. Die Commentatoren sind nicht einig darüber, wer dieser gewesen sei.

19-24  Peter dalla Broccia, geheimer Rath Philipps des Schönen, wurde, weil er hoch in der Gunst seines Herrn stand, von anderen Großen bei der Königin, einer Brabanterin, so angeschwärzt, daß sie ihn beim Könige fälschlich beschuldigte, ihrer Keuschheit nachgestellt zu haben. Die Königin wird ermahnt, zur rechten Zeit diese That zu bereuen, weil sie sonst nicht ins Fegefeuer, sondern in die Hölle kommen werde.

28-42  Hindeutung auf den Vers Virgils (Aen. VI, 376): Desine fata deum flecti, sperare precando.

Als Aeneas den Palinurus in der Unterwelt aufgefunden hatte, bat ihn dieser: Da dextram misero et tecum me tolle per undas.

Die Sibylle aber belehrte ihn mit den vorher erwähnten Worten über die Unstatthaftigkeit seiner Bitte. Da Palinurus in der Hölle war und nur fromme Bitten der Gläubigen von Gott erhört werden, so konnte, wie hier angedeutet ist, das Gebet des Aeneas dem Palinurus nicht helfen.  -  Bemerkenswerth ist, wie Dante sich hier und anderwärts bestrebt, die Aussprüche seines Meisters Virgil (folglich der Vernunft) in Uebereinstimmung mit den Lehren des Christenthums, ja selbst mit denen der Kirche zu finden. Wir werden in der Folge sehen, daß er ihnen einen großen Einfluß auf die Belehrung der Heiden zum Christenthume zuschreibt.

49  Durch die Erwähnung Beatricens wird Dante zu lebendigerem Eifer aufgeregt. Wir werden diesen Zug schön finden, mögen wir uns in Beatricen die irdische Geliebte oder die Führerin zum Höchsten denken.

53  Du wirst erkennen, daß das Ziel nicht so schnell, als du jetzt glaubst, zu erreichen ist.

61  Sordello, einer der besseren provenzalischen Dichter und ein geachteter Gelehrter, der hier noch durch Stolz das Bewußtsein seines Werthes zeigt. Man bemerke, daß dieser Stolz vor dem Thore des Fegefeuers sich äußert. Wahrscheinlich wird er sich verlieren, wenn er erst innerhalb desselben die Bürden getragen hat, unter welchen mann erkennt, wie viel der Ruhm der Erde werth sei. (S. Gesang 10 und 11).

75 Wir haben oben (Ges. 2 V. 81) gesehen, daß Dante, als er den Casella umfassen wollte, dreimal mit den Armen zu der Brust kehrte. Weiter unten (Ges. 21 V. 131) werden wir finden, daß Virgil den Statius, der ihm die Knie umfangen will, darauf aufmerksam macht, daß sie beide Schatten und nicht zu fassen sind. Hier finden wir aber eine Umarmung zweier Schatten, ohne weitere Bemerkung, und müssen die Lösung des Widerspruchs den Lesern selbst überlassen.

76  Mantua, der Name des Vaterlandes des Virgil und Sordello, war das Zauberwort, bei dessen Klange der Letztere alles Stolzes vergaß und den Fremden, ihm noch unbekannten, umarmte. Dies veranlaßt den Dichter zu der nun folgenden Strafrede gegen Italien, das gemeinsame schöne Vaterland, dessen Bürger, weit entfernt, durch eine gemeinsame Gesinnung für das Vaterland verbunden zu sein, sich in wüthenden Wechselkriegen vertilgten; das selbst innerhalb der Mauern seiner Städte zerstörenden Parteikampf der Bürger nährte; und das, wie die Parteiwuth es gebot, der feilen Dirne gleich, die Fremden anlockte und ihnen seinen Schooß öffnete.

88  Was hift dir's, daß Justinian dir Gesetze gab, da kein Herrscher vorhanden ist, um sie geltend zu machen.

91  Der Ghibellin eifert hier gegen diejenigen, die, statt dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, theils nach republikanischer Freiheit rangen, theils der Kirche weltliche Herrschaft zu verschaffen suchten.

97  Kaiser Albrecht, Sohn Rudolphs von Habsburg, hatte, gleich seinem Vater, in Deutschland zu viel zu thun, und verwickelte sich durch regellose Thätigkeit und Habsucht dort und in der Schweiz in zu viele Händel, als daß er in Italien, wo Bonifaz der Achte ihm feindselig entgegenstand, etwas wirken oder auch nur an die Unterwerfung dieses Landes ernstlich hätte denken können. Ohne alle Hülfe von außen mußten daher seine Anhänger in Italien, zu welchen die V. 106 und 107 benannten Geschlechter gehörten, der mächtig sich erhebenden Guelfischen Partei unterliegen. Das Strafgericht, das der Dichter, seine Reise in das Jahr 1300 versetzend, prophetisch vom Himmel auf Albrecht herabruft, hatte, da er dies schrieb, den Kaiser schon betroffen, der den 1. Mai 1308 von seinem Neffen Johann und dessen Verbündeten auf dem Wege von Baden nach Rheinfelden ermordet worden war.  -  So wenig die Deutschen auch Ursache haben, Albrecht zu loben, so werden sie doch nicht ihm, noch weniger seinem großen Vater, darüber Vorwürfe machen, daß er sich nicht um Welschland bekümmerte. Wie ganz anders würde sich die deutsche Geschichte gestaltet haben, wenn die Gartenauen Italiens und die aus ihnen entspringenden leeren Träume einer Fortsetzung des römischen Reichs für die sächsischen, fränkischen und schwäbischen Kaiser weniger Reiz gehabt hätten!

106  Außer den Montecchi und Capelletti führt der Dichter noch die Monaldi und Filipeschi auf  -  sämmtlich ghibellinisch gesinnte Geschlechter, welche durch die Uebermacht der Guelfen unterdrückt wurden.

115  Kein Leser wird hier die bitterste Ironie eines ergrimmten Herzens verkennen.

124  Zum Tyrannen wird jener Gewalthaber, der nicht durch das Gesetz und nach dem Gesetze regiert, und solcher Tyrannen gab es, wie immer in Zeiten der Parteiung, fast in jeder Stadt Italiens, wo die Guelfische Partei die Freiheit zu ihrem Wahlspruch nahm. Jeder elende Mensch, der der Partei beitrat, wurde wie Marcellus betrachtet, der sich der Herrschaft Cäsars entgegensetzte.

127  Auch in dem, was hier von Florenz gesagt ist, wird man die grimmigste Ironie nicht verkennen. Daß die Gesetzgebung bei dem Zustande, in welchem sich jene Republik damals befand, nicht von ruhiger Besonnenheit geleitet werden, folglich auch nicht dauerhaft sein konnte, würde man wissen, auch ohne es durch die Geschichte erfahren zu haben. In keinem Staate, in welchem eine Partei herrscht, kann die Gesetzgebung gut, folglich dauernd sein. Nur da ist sie es, wo sie allem Parteiwesen fremd, in lichtvoller Erkenntniß der Zeit und ihres Bedürfnisses, ruhig und langsam ihren Weg verfolgt, aber immer vorwärts schreitet.