Uebersicht

Das Fegefeuer.

Zweiter Gesang.

1 Sol war zum Horizont herabgestiegen   1
Des Mittagskreis, wo er am höchsten steht,
Sieht unter sich die Veste Zions liegen.
4 Nacht, welche sich ihm gegenüber dreht,
War mit der Waag' am Ganges vorgegangen,
Die, wenn sie zunimmt, ihrer Hand entgeht.
7 Drum hatte Eos weiß' und rothe Wangen
Dort, wo ich war, weil ihre Jugend schwand,
In hohem Gelb zu schimmern angefangen.
10 Wir waren noch am niedern Meeresstrand,
Und gingen, ob des fernen Wegs mit Sorgen
Im Herzen fort, indeß der Körper stand.
13 Und wie in trüber Röthe, wenn der Morgen
Sich nähert, Mars, im Westen, nah dem Meer
Sich zeigt, von dichten Dünsten fast verborgen,
16 So sah ich jetzt ein Licht - o säh ich's mehr! -   16
Und eilig, wie kein Vogel je geflogen,
Glitt's auf des Meeres glattem Spiegel her.
19 Als ich von ihm die Augen abgezogen
Ein wenig hatt' und zu dem Führer sprach,
Schien's heller dann und größer ob den Wogen.
22 Dann auf des Lichtes beiden Seiten brach   22
Ein weißer Glanz hervor, und er entbrannte,
Wie's näher kam, von unten nach und nach.
25 Mein Meister, der nach ihm sich schweigend wandte,
Indem der Flügel erstes Weiß erschien,
Rief, wie er nun den hehren Schiffer kannte:
28 "O eile jetzt, o eile hinzuknie'n!
Sieh Gottes Engel! Falte deine Hände!
Nun siehst du Solchen Gottes Wink vollziehn.
31 Sieh, er verschmäht, was Menschenwitz erfände,
Nicht Segel, Ruder nicht - sein Flügelpaar
Braucht er zur Fahrt ans ferneste Gelände.
34 Sieh, wie's gen Himmel strebt so schön und klar!
Die Luft bewegt das ewige Gefieder,
Das nicht sich ändert wie der Menschen Haar."
37 Und wieder naht er sich indeß und wieder
In hellerm Glanz, daß näher solchen Schein
Mein Auge nicht ertrug, drum schlug ich's nieder.
40 Und leicht und schnell sah ich durch ihn allein
Das Schiff des Eilands niedern Strand gewinnen,
Auch drückt' es kaum die Spur den Fluten ein.
43 Und als ein Sel'ger stand vor meinen Sinnen
Am Hintertheil des Schiffes Steuermann,
Und mehr als hundert Geister saßen drinnen.
46 "Als aus Aegypten Israel entrann,"   46
Die Schaar, gewiß, das Ufer zu erreichen,
Fing diesen Psalm einstimm'gen Sanges an.
49 Er macht' auf sie des heil'gen Kreuzes Zeichen,   49
Drum warf sich Jeder hin am Meeresbord,
Dann sah man ihn schnell, wie er kam, entweichen.
52 Fremd schienen Alle, welche blieben, dort,
Und um sich blickend sah ich sie verweilen,
Wie den, der Neues sieht am fremden Ort.
55 Von allen Seiten schoß mit Feuerpfeilen
Den Tag die Sonne, die vom Meridian   56
Den Steinbock schon gezwungen zu enteilen.
58 Da hoben, die wir eben kommen sahn
Nach uns die Stirn empor mit diesem Worte:
"Zeigt uns, dafern ihr könnt, zum Berg die Bahn."   60
61 Erwiedert ward darauf von meinem Horte:
"Wißt, wenn ihr wähnt, wir wüßten hier Bescheid,
Wir sind so fremd, wie ihr an diesem Orte.
64 Denn kurz vorher, eh' ihr gekommen seid,
Sind auf so rauhem Weg wir angekommen,
Daß hier zu klimmen Spiel, nicht Müh' und Leid."
67 Wie Jene nun am Athem wahrgenommen,
Daß ich noch lebe, schienen sie bewegt,
Ja, vor Erstaunen ängstlich und beklommen.
70 Und wie dem Boten, der den Oelzweig trägt,   70
Die Menge folgt, voll Neubegier sich pressend,
Und Tritt und Stöße sonder Scheu erträgt,
73 So drängten jetzt, mich mit den Augen messend
Zu mir die hochbeglückten Seelen sich,
Beinah den Gang zur Reinigung vergessend.
76 Hervor trat Eine jetzt, so inniglich
Mich zu umarmen, mit so holden Mienen,
Daß mein Verlangen ganz dem ihren glich.
79 O leere Schatten, die Gestalt nur schienen!   79
Dreimal hatt' ich die Hände hinter ihr,
Und dreimal kehrt' ich zu der Brust mit ihnen.
82 Das Antlitz, glaub' ich, malt' Erstaunen mir,
Und Jenen sah ich lächelnd rückwärts schweben,
Doch folgt' ich ihm mit liebender Begier.
85 Und lieblich hört' ich ihn die Stimm' erheben:
"Sei ruhig!" da erkannt' ich ihn und bat   86
Er möge weilen und mir Antwort geben.
88 "Dich lieb' 'ich," sprach er, als ich ihm genaht,
"Wie einst im Leib, so jetzt der Haft entbunden,
Drum weil' ich - doch was gehst du diesen Pfad?"
91 ""O mein Casella, hier nur eingefunden
Hab' ich mich, um zur Welt zurückzugehn.
Doch wie bist du beraubt so vieler Stunden?""   93
94 Und Er: "Drob ist kein Unrecht mir geschehn.
Mußt' Er auch öfters mich zurückeweisen,
Der mit sich fortnimmt wann er will und wen.
97 Denn sein Will' ist nur der des Ewig-Weisen;
Und seit drei Monden hat er gern gewährt,
Wenn irgend wer verlangt hat, mitzureisen.
100 Auch mich, der ich mich zu dem Strand gekehrt,
Wo salzig wird der Tiber süße Welle,
Empfing er liebevoll, da ich's begehrt.   103
103 Jetzt schwebt er wieder hin zu jener Stelle,
Wo er vereint mit freudigem Empfang
Die, so nicht Sünde stürzt zur Nacht der Hölle."
106 Und ich: ""Hat dir nicht jenen Liebes-Sang,
Den du geübt, ein neu Gesetz entrissen,
Der öfters mir gestillt des Herzens Drang.
109 So laß mich jetzt nicht seinen Trost vermissen,
Denn meine Seele, die der Leib umflicht,
Schwebt, da sie hier erscheint, in Kümmernissen.""
112 "Die Liebe , die zu mir im Herzen spricht -"   112
Begann er jetzt, und ach, die süße Weise
Verklingt noch jetzt in meinem Innern nicht.
115 Mein Herr und ich, wir standen still im Kreise
Der Andern dort, und Alle so beglückt,
Als kennten wir kein andres Ziel der Reise,
118 Nur seinen Tönen horchend, hochentzückt.
Da sieh bei uns den ehrenhaften Alten:   119
"Was, träge Geister, ist's, daß euch berückt?   120
121 Nachlässige, so lang' euch aufzuhalten!
Zum Berg hin, wo man frei der Hüllen wird,
Die Gottes Anblick noch euch vorenthalten!"
124 Wie wenn, von Weizen oder Lolch gekirrt,   124
Die Tauben still im Stoppelfelde schmausen,
Und keine mehr umherstolziert und girrt,
127 Dann aber, wenn erscheint, wovor sie grausen,
Sie alle jäh, mit größrer Sorg' im Sinn,
Von ihrer Weid' empor im Fluge brausen;
130 So lief die Schaar der Seelen jetzt dahin,
Vom Sange fort, zum Berge sonder Weile,
Wie wer da läuft, allein nicht weiß wohin;
133 Wir aber folgten mit nicht mindrer Eile.

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Dritter Gesang

Anmerkungen:

1 Der Dichter nimmt auf dem Runde der Erde vier Punkte an, deren Meridian, seiner Voraussetzung nach, gleich weit von einander entfernt ist: Jerusalem, den Ebro, den Berg der Läuterung und den Ganges. Die Entfernung des einen Meridians von dem andern beträgt 90 Grade, dergestalt, daß Jerusalem und der Berg des Fegefeuers 180 Grade, oder um die ganze Hälfte des Erdumfangs, von einander entfernt liegen, mit anderen Worten: daß die Bewohner beider Punkte Gegenfüßler sind. Diesen beiden Punkte haben einen Horizont, d. h. dieselbe Gränze ihres Gesichtskreises, daher, wenn für Jerusalem die Sonne im Westen diese Gränze überschreitet, d. h. untergeht, sie für den Berg des Fegefeuers im Osten aufgeht. Die beiden anderen Punkte, der Ganges und Ebro, liegen zwischen ihnen, gegenseitig von sich um 180 Grade, von Jerusalem und dem Fegefeuer-Berge aber um 90 Grade entfernt, welche die Sonne in sechs Stunden durchläuft. Wenn also die Sonne für den Meridian von Jerusalem dem westlichen Horizonte nahe steht, ist sie für den Berg des Fegefeuers im Begriff aufzugehen. Dann verschwindet hier das Weiß und Roth der jungen Morgenröthe und macht dem hohen Gelb Platz, welches dem Aufgange der Sonne vorausgeht. Am Ganges aber, 90 Grad ostwärts, ist sie schon seit sechs Stunden untergegangen. Dort ist's also eben jetzt volle Nacht. Die Nacht aber bringt im Anfange des Frühlings das Gestirn der Waage mit sich, in welchem die Sonne sechs Monate später, zu Anfange des Herbstes, aufgeht. Zu dieser Zeit nimmt die Nacht zu, die Waage aber entgeht den Händen derselben, weil sie mit der Sonne bei Tage am Himmel steht.

16 Der Dichter wünscht das Licht (den Engel, der eben erscheint) mehr zu sehen, weil er dann der Seligkeit gewiß sein kann. Diesen Sinn hat die Stelle, mögen wir nun in dem Engel allegorisch die edlen, uns zur Seligkeit leitenden Entschließungen, oder ohne Allegorie die Diener des göttlichen Willens erkennen, welche die Seelen nach dem Tode zur Läuterung führen.

22 Der hellste Glanz ist der des Angesichts, und dieser wird zuerst erkennbar, dann zeigt sich das lichte Weiß der beiden Flügel, und zuletzt das des Gewandes.

46 Der Anfang des schönen 114ten Psalmen, welchen die Leser nachlesen mögen. Sie werden leicht erkennen, wie herrlich dieser Psalm auf die Seelen angewandt ist, welche, gerettet aus der Sclaverei der Erde, der Freiheit zuziehen.[114. Psalm: Als Israel zog aus Ägypten, / Jacobs Stamm aus dem fremden Volk: / Da wurde Juda sein Heiligtum, / Israel sein Reich. / Das Meer sah es und floh, / der Jordan wandte rückwärts sein Lauf. / Die Berge hüpften den Widdern gleich, / wie junge Lämmer die Hügel. / Was ist dir Meer, daß du fliehst? / Jordan, was wendest du rückwärts den Lauf? / Ihr Berge, was hüpfet ihr gleich den Widdern, / wie junge Lämmer, ihr Hügel? / Erde, erhebe von dem Anblick des Herrn, / vor Jacobs Gott, / vor seinem heiligen Antlitz! / Der den Felsen gewandelt zum Weiher, / zur strömenden Quellen den Stein. (Herder Bibel-Ausgabe 1978)]

49 Der christliche Glaube und die christliche Sittenlehre sind es, die uns am sichersten zur moralischen Freiheit leiten. Auf sie verweiset der Engel die Seelen, indem er auf sie das Zeichen des Kreuzes macht.

56 Der Steinbock ist vom Widder 90 Grade westlich entfernt, und steht also, wenn die Sonne im letztern aufgeht, beim Anfang derselben in der Mittagshöhe.

60 Wir haben im zweiten Gesange der Hölle gesehen, daß der Dichter nur zögernd und zweifelnd auf Virgils Zureden sich entschloß, die verhängnißvolle Reise zu unternehmen und sich zuvörderst die Erkenntniß der Sünde zu verschaffen. Im zehnten Verse dieses Gesanges zeigt sich bei Dante und Virgil gleiche Unschlüssigkeit, denn die Vernunft selbst findet es schwerer, sich von der Sünde zu läutern, als sie zu erkennen. Gleiche Ungewißheit zeigen nun die eben ankommenden Seelen bei der Neuheit des Zustandes, in welchem sie sich befinden.

70 Noch zu Dante's Zeiten sollen die Friedensboten nach alter Sitte mit dem Oelzweige in der Hand erschienen sein. An Gelegenheit, dergleichen Boten zu sehen, konnte es dem Volke damals nicht fehlen.

79 Ueber die Gestaltung der Seelen vergleiche Anmerk. zur Hölle Ges. 3 V. 34 und Ges. 6 V. 35.

86 Der hier erscheinende Schatten ist Casella, ein trefflicher Sänger und Tondichter, des Dichters Lehrer in der Musik und ihm innig befreundet. Er hatte mehrere von Dante's Canzonen in Musik gesetzt. (S. Einleitung.)

93 Casella soll am Anfange des von Bonifaz im Jahre 1300 veranstalteten Jubelfestes umgekommen sein. Der Dichter, der seine Reise am Anfange des Frühlings macht, fragte daher, warum er drei Monate später hierher komme, indem er diese Zwischenzeit zwischen dem Tode und dem Beginn der Läuterung für verloren hält. Wo und wie die Seelen in dieser Zeit sich befinden, ist nicht näher angegeben.

103 Den Ausfluß der Tiber hält der Dichter für den Ort, wo die zur Seligkeit bestimmten Seelen eingeschifft werden, um sich zuvörderst im Fegefeuer zu läutern. Die Verdammten dagegen stürzen unmittelbar nach dem Tode zu ihrem Straforte hinab. Hiermit ist die Vermittelung der Kirche zwischen Gott und den zur Seligkeit bestimmten Seelen angedeutet.

112 Die Liebe etc. Amor, che nella mente mi ragiona - der Anfang einer wunderschönen Canzone des Dante.

119 Den ehrenhaften Alten. Den Cato.

120 Indem wir aus einem sittlichen Zustande in den andern übergehen, vermögen wir den, welchen wir verlassen, mit seinen Gewohnheiten, Neigungen und Erinnerungen nicht sofort zu vergessen. So sucht Dante in seinem neuen Streben noch Trost und Stärkung in Casella's Gesang, und Casella ist sehr bereit, ihm diesen Trost in der Uebung der geliebten Kunst zu gewähren. Aber Cato, der selbst Marcia's sich nicht mehr erinnern mag (s. Ges. 1 V. 85), schilt sie ob dieser eitlen Lust und treibt sie dem Ziele zu.

124 Wenn ein Schwarm Tauben sich auf dem Felde niederläßt, sieht man sie erst mit dem ihnen eigenthümlichen, an Stolz erinnernden Nicken des Kopfes girrend umherlaufen. Bald aber suchen sie still und ruhig die Körner im Stoppelfelde, bis sie, wenn irgend etwas sie erschreckt, sämmtlich jählings emporfliegen. Man erkennt bei allen aus der gewöhnlichen Natur entnommenen Gleichnissen, wie genau der Dichter die Erscheinungen derselben bis zur kleinsten beobachtet hat.