Die Hölle. |
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Vierunddreißigster Gesang. |
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1 | "Uns naht des Höllenköniges Panier! |
Schau hin, ob du vermagst ihn zu erspähen," | |
So sprach mein edler Meister jetzt zu mir. | |
4 | Und wie, wenn dichte Nebel uns umwehen, |
Wie in der Dämmerung, vom fernen Ort | |
Windmühlenflügel aussehn, die sich drehen; | |
7 | So sah ich jetzo ein Gebäude dort - |
Nichts fand ich sonst, mich vor dem Wind zu decken, | |
Drum drängt' ich fest mich hinter meinen Hort. | |
10 | Dort war ich, wo - ich sing' es noch mit Schrecken - 10 |
Die Geister, in durchsicht'ges Eis gebannt, | |
Ganz drin, wie Splitterchen im Glase, stecken. | |
13 | Der lag darin gestreckt, und Mancher stand, |
Der aufrecht, jener auf dem Kopf; der bückte | |
Sich sprenkelkrumm, das Haupt zum Fuß gewandt. | |
16 | Als hinter ihm ich so weit vorwärts rückte, |
Daß es dem Meister nun gefällig schien, | |
Mir den zu zeigen, den einst Schönheit schmückte, | |
19 | Da trat er weg von mir, hieß mich verziehn, |
Und sprach zu mir: "Bleib, um den Dis zu schauen | |
Und hier laß nicht dir Muth und Kraft entfliehn." | |
22 | Wie ich da starr und heiser ward for Grauen, |
Darüber schweigt, o Leser, mein Bericht, | |
Denn keiner Sprache läßt sich dies vertrauen. | |
25 | Nicht starb ich hier, auch lebend blieb ich nicht, |
Nun denke, was dem Zustand dessen gleiche, | |
Dem Tod und Leben allzugleich gebricht. | |
28 | Der Kaiser von dem thränenvollen Reiche |
Entragte mit der halben Brust dem Glas, | |
Und wie ich eines Riesen Maß erreiche, | |
31 | Erreicht' ein Riese seines Armes Maß. |
Nun siehst du selbst das ungeheure Wesen, | |
Dem solch ein Glied verhältnißmäßig saß. | |
34 | Ist er, wie häßlich jetzt, einst schön gewesen, |
Und hat den güt'gen Schöpfer doch bedroht, | |
So muß er wohl der Quell sein alles Bösen. | |
37 | O Wunder, das sein Kopf dem Auge bot! |
Mit drei Gesichtern sah ich ihn erscheinen, 38 | |
Von diesen aber war das vordre roth. | |
40 | Anfügten sich die andern Zwei dem Einen, |
Gerad' ob beiden Schultern hingestellt, | |
Um oben sich beim Kamme zu vereinen; | |
43 | Das Antlitz rechts weißgelblich - ihm gesellt |
Das links, gleich dem der Leute, die aus Landen | |
Von jenseits kommen, wo der Nilus fällt. | |
46 | Groß, angemessen solchem Vogel, standen 46 |
Zwei Flügel unter jedem weit heraus, | |
Die wir den Segeln gleich, nur größer fanden, | |
49 | Und federlos, wie die der Fledermaus. |
Sie flatterten ohn' Unterlaß und gossen | |
Drei Winde nach verschiedner Richtung aus. | |
52 | Dadurch ward der Cocyt mit Eis verschlossen. |
Sechs Augen waren nie von Thränen frei, | |
Die auf drei Kinn' in blut'gem Geifer flossen | |
55 | Und einen argen Sünder malmt' entzwei |
Und kaute jeder Mund, daher zerbissen, | |
Flachsbrechen gleich, die scharfen Zähne drei. | |
58 | Der vordre Mund schien sanft in seinen Bissen, |
Verglichen mit den scharfen Klau'n, zu sein, | |
Die oft die Haut vom Fleisch des Sünders rissen. | |
61 | Da sprach Virgil: "Sieh hier die größte Pein! |
Ischarioths Kopf steckt zwischen scharfen Fängen, 62 | |
Und außen zappelt er mit Arm und Bein. | |
64 | Zwei Andre sieh, den Kopf nach unten hängen; |
Hier Brutus an der schwarzen Schnauze Schlund | |
Sich ohne Laute winden, drehn und drängen; | |
67 | Dort Cassius, kräftig, wohlbeleibt und rund. - 64-67 |
Doch naht die Nacht, drum sei jetzt fortgegangen, | |
Denn ganz erforscht ist nun der Hölle Grund." | |
70 | Jetzt winkte mir, den Hals ihm zu umfangen, |
Und Zeit und Ort ersah sich mein Gesell, | |
Und, als sich weit gespreizt die Flügel schwangen, | |
73 | Hing er sich an die zott'ge Seite schnell. |
Griff Zott' auf Zott', um sich herabzusenken | |
Inmitten eis'ger Rind' und rauhem Fell. | |
76 | Dort angelangt, wo in den Hüftgelenken 76 |
Des Riesen sich der Lenden Kugeln drehn, | |
Eilt' er, mit Müh' und Angst, sich umzuschwenken. | |
79 | Wo erst der Fuß war, kam das Haupt zu stehn; |
Die Zotten fassend, klomm er aufwärts weiter, | |
Als sollten wir zurück zur Hölle gehn. | |
82 | "Hier halte fest dich; denn auf solcher Leiter |
Entkommt man nur so großem Leid," so sprach | |
Tief keuchend, wie ein Müder, mein Begleiter, | |
85 | Worauf er Bahn sich durch ein Felsloch brach, |
Dann setzt' er mich auf einen Rand daneben, | |
Und streckte mir den Fuß behutsam nach. | |
88 | Ich blickt' empor, und glaubte, wie ich eben |
Den Dis gesehn, so stell' er noch sich dar. | |
Doch seine Füße sah ich sich erheben. | |
91 | Wie ich erschrack, bedenk', o dumme Schaar, |
Der's Noth thut, daß sie erst erkennen lerne, | |
Durch welchen Punkt ich jetzt gedrungen war. | |
94 | Da sprach Virgil: "Jetzt auf, das Ziel ist ferne, |
Der Weg auch schwierig, den du vor dir hast; | |
Und Sol, aufsteigend, scheucht bereits die Sterne." | |
97 | Nicht war's ein Gang durch einen Prachtpalast, |
Der vor mir lag: er lief auf rauhem Grunde | |
Durch eine Felsschlucht, völlig dunkel fast. | |
100 | Ich, aufrecht stehend, sprach: ""Eh aus dem Schlunde |
Der Weg, den du mich leitest, mich entläßt, | |
Reiß aus dem Irrthum mich und gieb mir Kunde: | |
103 | Wo ist das Eis? Wie steckt Dis köpflings fest? |
Und wie hat Sol so schnell aus solchen Weiten 104 | |
Die Ueberfahrt gemacht zum Ost vom West?"" | |
106 | "Du glaubst dich auf des Centrums andrer Seiten, |
Wo du am Wurme, der die Erde kränkt | |
Und sie durchbohrt, mich sahst herniedergleiten. | |
109 | Du warst's, so lang' ich mich hinabgesenkt; |
Allein den Punkt, der anzieht alle Schwere, | |
Durchdrangest du, da ich mich umgeschwenkt. | |
112 | Jetzt kamst du zu der andern Hemisphäre, |
Entgegen der, die großes trocknes Land | |
Bedeckt, und unter deren Zelt der Hehre 114 | |
115 | So fehllos lebt' und starb wie er entstand. |
Du stehest jetzo auf dem kleinen Kreise, | |
Der hier Judecca's andre Seit' umspannt. | |
118 | Und hier beginnt der Sonne Tagesreise, |
Wenn sie dort endet, und im Brunnen steckt | |
Noch immer Lucifer nach alter Weise. | |
121 | Vom Himmel ward er hier herabgestreckt. 121 |
Das Land, das erst hier ragte, hat sich droben | |
Aus Furcht vor ihm im Meeresgrund versteckt, | |
124 | Und sich auf jenen Halbkreis dort erhoben. |
Um ihn zu fliehn, drang auch die Erde vor | |
Aus dieser Höhl' und drängte sich nach oben." | |
127 | So sprach Virgil - und sieh, vom Dis empor |
Ging eine Schlucht, tief, wie die ganze Hölle, | |
Zwar nicht erkannt vom Auge, doch vom Ohr; | |
130 | Denn rauschend lief ein Bach, deß rasche Welle 130 |
Sich Bahn durch Felsen brach, mit sanftem Hang | |
Und vielgewunden, bis zu jener Stelle. | |
133 | Nun trat mein Führer auf verborgnem Gang |
Den Rückweg an entlang des Baches Windung; | |
Und wie ich, rastlos folgend, aufwärts drang, | |
136 | Da blickte durch der Felsschlucht ob're Ründung 136 |
Der schöne Himmel mir aus heitrer Ferne, | |
Und eilig stiegen wir aus enger Mündung | |
139 | Und traten vor zum Wiedersehn der Sterne. |
Erläuterungen:
10 Wir betreten die vierte Abtheilung des letzten Kreises, Judecca, wo diejenigen bestraft werden, welche an ihren Wohlthätern Verrath üben, indem sie in verschiedenen Stellungen ganz und gar im Eise Stecken. In der Mitte dieser Abtheilung und des Alls finden wir die vier Hauptverräther dieser Art, den Dis oder Lucifer, das Oberhaupt der abgefallenen Engel, Judas Iscarioth, Cassius und Brutus. 38 Dis oder Lucifer, das böse Princip, das zuerst durch den Abfall von Gott in die Welt getreten. Wir sehen ihn hier als Bestraften und als Werkzeug der Strafe, wie wir an vielen Orten die Sünder gefunden haben. Er hat drei Gesichter, welche nach Lombardi's Erklärung auf die drei damals bekannten Welttheile, und somit auf die Allgemeinheit der Sünde und die Herrschaft des Lucifer hindeuten sollen - das rothe auf die rothwangigen Europäer, das gelbe auf die Asiaten, das schwarze auf die Afrikaner. Nach Landino und anderen älteren Auslegern bezeichnen die Farben der Gesichter Zorn, Geiz und Trägheit, der Kamm darüber hingegen Hochmuth - Laster, durch welche die Herrschaft des Lucifer vorzüglich begründet und ausgedehnt wird. 46 Die Flügel sind nicht die, welche den Vogel aufwärts in das heitere Licht tragen, sondern die der nächtlichen Fledermaus. Nach allen Seiten der physischen und moralischen Welt hin strömt ihre Bewegung den Wind aus, welcher in seiner nächsten und unmittelbarsten Wirkung das Eis des Cocytus, den starren Schauder der schlimmsten Verbrecher, hervorbringt. 62 Iscarioth, der Verräther seines göttlichen Wohlthäters, nimmt mit Recht den ersten Platz unter den drei größten Verräthern ein. 64-67 Brutus und Cassius, die Verräther und Mörder Cäsars. Der ausgezeichnete Platz, den ihnen der Dichter vor anderen ähnlichen Verräthern anweist, wird hinreichend durch die Meinung desselben erklärt, daß das römische Reich auf Gottes unmittelbare Veranstaltung gestiftet sei, um die weltliche Herrschaft über den Erdkreis zu führen. Diese Meinung findet sich nicht nur in dem Tractat Dante's über die Monarchie, sondern auch in der göttlichen Komödie an mehreren Orten, vorzüglich Par. Ges. 6, Ges. 18 V. 108 ff.,Ges. 20 V. 8 u. 9, ausgesprochen. 76 Wenn man mit der Phantasie bis in den Mittelpunkt der Erde gedrungen ist, so findet man allerdings kein anderes Mittel, auf der andern Seite, mit dem Kopfe zuerst, wieder herauszukommen, als sich so umzuschwenken, wie Virgil, dessen Hals Dante umfaßt, hier thut. Man wird es aber auch ganz natürlich finden, daß Virgil bis zum Mittelpunkte niederwärts, von diesem an aber, nachdem er sich umgedreht, wieder aufwärts steigt, obwohl er immer ohne alle Unterbrechung in derselben Richtung fortklimmt. Eben so natürlich ist es auch, daß, da die Mitte des Lucifer gerade der Mittelpunkt der Erde ist, die Reisenden, da sie jenseits desselben angelangt sind, Lucifers Füße emporragen sehen. Uebrigens ist auch die moralische Deutung nicht schwer zu finden. Der Mensch, der, nachdem er die Sünde erkannt hat, sich von ihr reinigen will, muß, um zu seinem Ziele zu gelangen, in ganz entgegengesetzter Richtung vorwärts streben. Er muß das böse Princip hinter sich und unter sich haben, und von dem Augenblicke an, da er es erkannt hat, emporklimmen. 104 Ehe sie den Mittelpunkt überschritten, sagte Virgil V. 68: Es naht die Nacht. Jenseits desselben sagte er V. 96: Und Sol aufsteigend, scheucht bereits die Sterne. Dieser anscheinende Widerspruch ist's, über welchen Dante sich hier die Erklärung erbittet, die er in den folgenden Versen erhält. Bei jener Stelle dachte Virgil an die östliche, bei dieser, nachdem sie den Mittelpunkt überschritten, an die westliche Hemisphäre - an die Gegenfüßler, bei welchen der Morgen tagt, wenn bei uns die Nacht kommt. 114 Der Hehre, Christus, dessen Name in der Hölle nie ausgesprochen worden ist. 121 Dante nimmt an, Lucifer sei auf der damals unbekannten Seite der Erdkugel, wo Amerika liegt, vom Himmel herabgeschleudert worden. Vor Schrecken über seinen Fall versteckte sich das Land dort unter die Oberfläche des Meeres, und drang auf der östlichen Halbkugel hervor, auf welcher der Berg Zion eben den entgegengesetzten Punkt bildet. Allein nicht minder entsetzte sich die Erde in ihrem Innern, da er bis zum Mittelpunkte hin sie in seinem Sturze durchbohrte. Was er hier berührte, drängte sich nach oben und bildete dort den Berg des Fegefeuers, das einzige Land, welches sich nach des Dichters Erfindung auf jener Halbkugel findet. Im Innern aber blieb die Höhle, durch welche die Dichter emporstiegen. Daß dasjenige Land, welches der Grund und Boden ist, worauf die Seelen zur Reinigung emporsteigen, durch Lucifers - des bösen Princips - Fall erzeugt wurde, daß es dasjenige ist, welches aus Furcht vor ihm aus der Nacht der innern Erdmasse ans Licht und den Himmel zu sich erhob, daß dieser Berg und der Berg Zion diesseits und jenseits des Erddurchmessers, welchen das böse Princip durchbohrte, in gerader Linie liegen - das Alles dürfen wir als mannigfach bedeutungsvoll ansprechen. 130 Da auf der jenseitigen Halbkugel kein Land außer dem Berge des Fegefeuers sich befindet, so muß von diesem her der Bach kommen, von welchem wir nicht erfahren, wohin er fließt. Oben Ges. 14 V. 113 ff. haben wir gesehen, daß die Höllenflüsse von den Zähren entstehen, die durch die Spalten der minder edeln Metalle träufeln - von den Zähren, welche die Sünde auspreßt. Wir dürfen daher glauben, daß dieser Bach mit seiner sanftern Windung die Zähren bedeute, ausgepreßt von Sünden, von welchen die Schatten auf dem Berge sich gereinigt haben - die Sünden selbst, welche, nachdem die Lethe ihre Erinnerung abgewaschen, zu dem bösen Princip, von welchem sie ausgegangen sind, zurückfließen und sich in der Nacht der Vergessenheit verlieren. 136 Jeder Theil des Werkes schließt sich mit dem Worte: Sterne, und wir dürfen annehmen, daß das Emporstreben nach dem höchsten Erkennbaren hindurch als Ziel und letzter Schluß des ganzen Gedichts angedeutet worden sei. |