Uebersicht 

Die Hölle.

Neunundzwanzigster Gesang.

1 Das viele Volk und die verschiednen Wunden,
  Sie hatten so die Augen mir berauscht,
  Daß sie vom Schau'n mir ganz voll Zähren stunden.
4 Da sprach Virgil: "Was willst du noch? Was lauscht
  Und starrt dein Auge so nach diesen Gründen,
  Wo's Gräuelbild um Gräuelbild vertauscht!
7 Nicht also thatst du in den andern Schlünden.
  An zweiundzwanzig Miglien kreist dies Thal, 8 
  Drum kannst du hier nicht Jegliches ergründen.
10 Schon unter unserm Fuß glänzt Lunens Strahl,  10
  Und wenig dürfen wir uns nur verweilen,
  Denn noch zu sehn ist viel' und große Qual."
13 Ich sprach: ""Erlaubtest du, dir mitzutheilen,
  Welch' einen Grund ich hatt', hinabzuspähn,
  So würdest du wohl minder mich beeilen.""
16 Er ging, und ich ihm nach, und gab im Gehn
  Dem Meister von dem Grund des Forschens Kunde,
  Und sprach: "Wohl hab' ich scharf hinabgesehn,
19 Denn eine Seele wohnt in diesem Schlunde
  Von meinem Stamm, und sicher ist an ihr
  Bestraft die Schuld durch manche schwere Wunde."
22 Mein Meister sprach darauf: "Nicht mache dir
  Noch länger Sorg' um diesen Anverwandten;
  An Andres denk', Er aber bleibe hier.
25 Ich sah ihn bei der Brücke den Bekannten
  Dich zeigen, und dir mit dem Finger drohn
  Und hörte, wie sie ihn del Bello nannten.  27
28 Doch du bemerktest eben nichts davon,
  Weil auf dem Beltram deine Blicke weilten.
  Als dieser ging, war jener schon entflohn."
31 ""Weil Rach' und Schwert des Feindes ihn ereilten,""  31
  Sprach ich, ""und Keiner seinen Tod gerächt,
  Von allen denen, so die Kränkung theilten,
34 Zürnt er auf mich und zürnt auf sein Geschlecht,
  Und ging drum, ohne mich zu sprechen, weiter,
  Und darin, glaub' ich, hat der Arme Recht.""
37 Nun folgt' ich hin zum Felsen meinem Leiter,  37
  Von wo man überblickt den nächsten Schlund,
  Wär' irgend nur vom Licht die Tiefe heiter.
40 Von seiner Höh' ward unserm Auge kund
  Der letzte Klosterbann von Uebelsäcken,  41
  Und Laienbrüder sahn wir tief im Grund;
43 Und gleich den Pfeilen drangen, mir zum Schrecken,
  Gespitzt durch Mitleid, Jammertön' heraus,
  Und zwangen mich, die Ohren zu bedecken.
46 Wär' aller Schmerz aus jedem Krankenhaus
  Zur Zeit, da wild die Sommergluten flammen,
  Und Valdichiana's und Sardiniens Graus  48
49 Und Seuch' und Pest ein einem Schlund beisammen,
  Nicht ärger wär's als hier, wo fauler Duft
  Und Stank von Eiter in den Lüften schwammen.
52 Wir stiegen auf den Rand der letzten Kluft  52
  Vom langen Felsen niederwärts zur Linken,
  Und deutlicher erschien der Schooß der Gruft.
55 In diesen Grund läßt nach des Höchsten Winken
  Die nimmer irrende Gerechtigkeit
  Zur wohlverdienten Qual die Fälscher sinken.
58 Nicht in Aegina ist vor alter Zeit
  Des Volkes Anblick trauriger gewesen,
  Das krank darniedersank, dem Tod geweiht,
61 Ja bis zum kleinsten Wurm jedwedes Wesen,
  Durch tückisch böse Luft, worauf im Land,
  Wie wir für sicher in den Dichtern lesen,
64 Ein neues Volk aus Aemsenbrut entstand;
  Als hier zu sehn war, wie sich schwach und siechend
  Das Geistervolk in manchen Haufen wand.
67 Die Einen auf der Andern Rücken liegend,
  Die auf dem Bauch, und die von einem Ort
  Zum andern hin auf alle Vieren kriechend,
70 Wir gingen Schrittt um Schritt und schweigend fort,
  Sahn Kranke dort, unfähig aufzustehn,
  Und horchten auf ihr kläglich Jammerwort.
73 Sich gegenseitig stützend, saßen zween,  73
  Wie in der Küche Pfann' an Pfanne lehnt,
  Mit Grind gefleckt vom Kopf bis zu den Zehn.
76 Gleich wie ein Stallknecht, der nach Schlaf sich sehnt
  Und bald sein Tagwerk hofft vollbracht zu haben,
  Die Striegel eiligst führt, und öfters gähnt;
79 So sah ich sie sich mit den Nägeln schaben
  Und hier und dort sich kratzen und geschwind,
  So gut es ging, ihr wüthend Jücken laben:
82 Und schnell war unter ihren Klau'n der Grind
  Wie Schuppen von den Barschen abgegangen,
  Die unterm Messer schneller Köche sind.
85 "Du, vor deß Fingern jetzt die Schuppen sprangen,"  85
  Begann Virgil zu Einem von den Zwei'n,
  "Und der du sie auch oft gebrauchst wie Zangen,
88 Sprich, fanden sich auch hier Lateiner ein,
  Und mögen dich zu kratzen und zu krauen,
  Dafür dir ewig scharf die Nägel sein."
91 "Lateiner kannst du in uns beiden schauen,"
  Erwiedert' Einer drauf von Qual durchbebt,
  "Doch wer du bist, magst du mir erst vertrauen,"
94 Mein Führer sprach: "Von Fels zu Felsen strebt
  Mein Fuß hinab in diesen Finsternissen;
Die Hölle zeig' ich diesem, da er lebt."
97 Da schien das Band, das Beide hielt, zerrissen, 97
  Und Jeder, dem's der Rückhall kund gethan,
  War zitternd nur mich anzuschaun beflissen.
100 Dicht drängte sich an mich mein Meister an,
Und sprach: "Du magst sie nach Belieben fragen!"
Und ich, da Er es so gewollt, begann:
103 ""Soll dein Gedächtniß noch in späten Tagen
  Auf unsrer Welt und in der Menschen Geist
Erhalten sein, so magst du jetzo sagen,
106 Wie du dich nennst und deine Heimat heißt?
Und, trotz der ekeln Qual, nimm dich zusammen,
Daß du in deinen Reden offen seist.""
109 "Mich zeugt' Arezzo, und den Tod in Flammen  109
Verschafft' einst Albero von Siena mir,
Doch andrer Grund hieß Minos mich verdammen.
112 Wahr ist's, ich sagt' im Scherz: Ins Luftrevier,
Verstünd' ich mich im Fluge hinzuschwingen.
Er, klein an Witz, und groß an Neubegier,
115 Bat mich, ihm diese Kenntniß beizubringen,
Und nur weil er durch mich kein Dädal ward,
Befahl sein Vater dann, mich umzubringen.
118 Doch Minos, dem sich Alles offenbart,
Hat, weil ich mich der Alchymie ergeben,
Im letzten Schlund der zehen mich verwahrt."
121 Zum Dichter sagt' ich: ""Sprich, ob man im Leben
So eitles Volk, wie die Sanesen fand?
Selbst die Franzosen sind ja nichts daneben.""
124 Der andre Grind'ge, welcher mich verstand,
Rief: "Mag nur Stricca ausgenommen bleiben,  125
Der all' sein Gut so klüglich angewandt;
127 Und Nickel, dem die Ehre zuzuschreiben,
Daß er zuerst die Braten wohl gewürzt,
Dort, wo dergleichen Saaten wohl bekleiben;
130 Und jener Klub, der wohl die Zeit gekürzt,  130
In dem Caccia d'Ascian sammt seinem Witze,
Auch Wald und Weinberg durch den Schlund gestürzt.
133 Doch willst du wissen, wer dir half, so spitze  133
  Den Blick auf mich, und stelle dich dahin,
  Gerade gegenüber meinem Sitze;
136 Dann wirst du sehn, daß ich Capocchio bin.  136
  Metall verfälscht' ich, daß ich Gold erschaffe,
  Und, sah ich recht, so ist dir's noch im Sinn.
139 Ich war von der Natur ein guter Affe."

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Dreißigster Gesang

Erläuterungen:

8 Hier bezeichnet der Dichter zuerst mit bestimmten Worten den Anfang des Höllentrichters, und läßt uns dadurch, daß er V. 86 des folgenden Gesanges den nächsten Kreis nur als halb so groß angiebt, auf das Verhältniß schließen, in welches seine Phantasie die verschiedenen Kreise in Hinsicht ihrer Größe zu einander stellt. Hierauf sich begründend, hat man den Umfang jedes Kreises sehr genau berechnet, womit wir aber die Leser nicht behelligen wollen. Wir würden durch Mittheilung einer solchen Berechnung die Phantasie des Lesers mehr verwirren als aufklären, da es kein Mittel giebt, den Raum, welchen die Dichter durchreisen, mit der Zeit, binnen welcher die Reise durch die Hölle vollbracht wird, in Uebereinstimmung zu bringen. Uebrigens ist diese Berechnung für den dichterischen Zweck völlig gleichgültig.

10 Da der Mond voll war, als die Dichter ihre Reise begannen, so befindet sich, wenn der Mond unter ihren Füßen steht, die Sonne über ihren Häuptern; es ist daher jetzt auf der östlichen Hemisphäre Mittag.

27 Geri del Bello, ein Verwandter des Dichters, als Stifter von Zwietracht berüchtigt, war von einem Sachetti ermordet worden.

31 Der Dichter zeigt sich hier als echten Italiener, da er sich nicht von der Ueberzeugung trennen kann, der Schatten habe Ursache sich zu beschweren, daß Keiner seines Geschlechts seinen Mord durch blutige Selbsthülfe gerächt habe. Dreißig Jahre später soll, nach Landino, wirklich noch ein Verwandter des Geri, dieser von der italienischen Sittenlehre aufgelegten Pflicht gemäß, einen Sachetti an der Thür seines Hauses ermordet haben.

37 Die Dichter überschauen nun von der Felsenbrücke die zehnte und letzte Abtheilung des achten Kreises, in welcher Fälscher aller Art an ekelhaften und gefährlichen Krankheiten darniederliegen. Auch diese Bezeichnung des Lasters durch die Strafe ist eine sehr allgemeine, denn jedes Laster ist eine moralische Krankheit, und ebenso gut werden die Sünder in anderen Kreisen mit derselben Strafe belegt werden können. Ob bei den besonderen Arten von Fälschung, welche wir im Folgenden mit besonderen Krankheiten bestraft sehen, ein genaueres Verhältniß zwischen Strafe und Verbrechen zu erkennen ist, wird sich weiter unten ergeben.

41 Ob der Dichter diese letzte Abtheilung hier nur zufällig einen Klosterbann nennt, weil die Verdammten überhaupt hier und in anderen Kreisen in ihren Strafort für immer gebannt sind, oder ob er aus besonderen Gründen den Strafort für die Fälscher so bezeichnet, weil er vielleicht voraussetzt, daß das klösterliche Leben meist zu einer fortgesetzten Fälschung Veranlassung gebe, möge unentschieden bleiben.

48 Valdichiana, eine sehr ungesunde Gegend bei Arezzo. Außer Sardinien, wo im Spätsommer in mehreren Gegenden eine sehr ungesunde Luft herrschen soll, ist im Original noch die Maremma benannt, ein sumpfiger Landstrich entlang des Meeresstrandes zwischen Pisa und Siena.

52 Die Dichter steigen wieder von der Höhe des Brückenbogens auf den Damm herunter, um der Tiefe näher zu sein, und so besser zu sehen, was sich dort befindet. - Der Leser ist vielleicht schon öfter auf die Frage gefallen: Wie Dante in dieser tiefen finstern Nacht überhaupt etwas sehen könne? - Der Uebersetzer weiß allerdings darauf keine bestimmte Antwort zu geben, da es dem Dichter nicht gefallen hat, die Sache näher zu erklären. Vielleicht verbreitet das Feuer, das wir an verschiedenen Orten der Hölle finden, namentlich das, welches den tugendhaften Heiden leuchtet; das, welches auf die Gewaltthätigen gegen Gott herabfällt; das, welches in den Gräbern der Ketzer brennt; endlich das, in welchem die trügerischen Rathgeber verborgen sind, so viel Licht im ganzen Höllentrichter, daß darin allenthalben eine Dämmerung entsteht - vielleicht auch kann derjenige, welcher von der Vernunft geleitet wird, nirgends von völliger Nacht umgeben sein.

73 Zwei Alchymisten, als Fälscher der Metalle, sitzen an einander gelehnt, mit Aussatz bedeckt und von ewigem Jücken gequält, welche sie durch wüthendes kratzen zu stillen suchen. Wir dürfen glauben, daß das gegenseitige Stützen beider ein gegenseitiges Vertrauen auf die trügliche Kenntniß des andern und deren Benutzung zu Erreichung des Zweckes deute, so wie wir in dem fortwährenden Kitzel den unaufhörlichen Reiz zu diesem thörichten Bestreben erkennen mögen, welcher dem, der damit beschäftigt ist, nicht Ruhe noch Rast lassen soll. Und wenn die Säfte dieser Kranken, anstatt sich, wie bei den Gesunden, zu Fleisch und Blut zu verkochen, in Schorf verwandelt nach Außen treten, so werden wir auch das Resultat der Geldmacherkunst bezeichnet finden.

85 Man muß bekennen, daß durch diese Anrede das Bild dessen, der vom Schorf, wie von einem Panzer, bedeckt ist, und im Kratzen eine schmerzhafte Labung sucht, mit wenigen Worten bis zur ekelhaften Lebendigkeit ausgemalt ist, und die außerordentliche Darstellungsgabe selbst dann bewundern, wo man nicht umhin kann, zu glauben, daß sie nicht wohl angewandt sei.

97 Die Kranken lagen erst still dort, wie von ihrer Krankheit gebunden. Aber die Nachricht, daß ein Lebender unter ihnen sei, bringt plötzlich eine allgemeine Bewegung hervor.

109 Griffolino aus Arezzo, ein Alchymist, hatte den Albero von Siena, den natürlichen Sohn des dortigen Bischofs, überredet, daß er die Kunst zu fliegen verstehe. Albero drang in ihn, auch ihn in dieser Kunst zu unterweisen, und bewirkte, als dies nicht gelang, daß Griffolino, der keinen Beweis seiner Zauberkunst geben konnte, als ein Zauberer verbrannt wurde.

125 Man sieht leicht, daß diejenigen Herren von Siena, welche hier vom Vorwurfe der Eitelkeit ausgenommen werden, gerade die eitelsten und liederlichsten waren.

130 Zu Dante's Zeit soll, wie Benvenuto d'Imola mit vielen lustigen Nebenumständen erzählt, eine Gesellschaft von zwölf reichen jungen Leuten in Siena ihr ganzes Vermögen in Geld verwandelt, dadurch eine Summe von zweimalhundert und sechzehntausend Florenz zusammengebracht und auf einen Haufen zusammengeworfen haben, um davon, so lange es gehen wollte, lustig zu leben. In zehn Monaten wußten sie mit diesem Vorrathe fertig zu werden.

133 Der Verbannte half dem Dante, indem er ihm noch manche Thatsachen nachwies, den Vorwurf der Eitelkeit, welchen er V. 121 den Einwohnern von Siena gemacht hatte, besser zu begründen.

136 Capocchio, wie man sieht, von Dante im Leben persönlich gekannt, ein Alchymist, der in Siena verbrannt worden war. Daher ist er wohl so bereit, Schlimmes von dieser Stadt zu sagen.