Uebersicht   

Die Hölle

Sechszehnter Gesang.

1 Ich war am Ort, wo's wiederhallend brauste  1
  Vom Wasser, das da stürzt' ins nächste Thal,
  Als ob ein Schwarm von Bienen summt' und sauste;
4 Da rannten Schatten her, drei an der Zahl,
  Und trennten sich von einer größern Bande,
  Die hinlief durch des Feuerregens Qual,
7 Und schrie'n: "Halt du, wir sehn es am Gewande
  Dir deutlich an, du bist hierher versetzt
  Aus unserm eignen schnöden Vaterlande."
10 Ach, alt' und neue Wunden, eingeätzt
  Von Flammen sah ich nun in ihrem Fleische,
  Und denk' ich dran, so jammert's mich noch jetzt.
13 Mein Meister horcht' auf dieses Schmerzgekreische,
  Und sah mich an und sprach: "Hier harren wir!
  Bedenke jetzt, was Höflichkeit erheische.
16 Denn wäre nicht der Feuerregen hier,
  Nach der Natur des Orts, so würd' ich sagen,
  Die Eile zieme, mehr als ihnen, dir"  16-18
19 Ich stand und hörte neu ihr altes Klagen;
  Zu uns gekommen waren Alle nun,
  Da sah ich sie sich selbst im Kreise jagen,
22 Wie nackende gesalbte Kämpfer thun,
  Die Griff und Vortheil zu erforschen pflegen,
  Indessen noch die Püff' und Stöße ruhn:
25 So sah ich sie im Kreise sich bewegen,
  Mir immerdar das Antlitz zugewandt,
  Und Hals und Fuß an Richtung sich entgegen.  22-27
28 Und Einer sprach: "Wenn dieser lockre Sand
  Und unsre Noth uns nicht verächtlich machte,
  Und unsre Haut, so rußig und verbrannt,
31 Dann unser Flehn, ob unsers Rufs, beachte:
  Sprich, wer du bist? wie lebend hier erscheinst?
  Und was dich sicher her zur Hölle brachte?
34 Der, welchem du mich folgen siehst, war einst,
  Muß er auch nackt hier und geschunden rennen,
  Von höherm Range wohl, als du vermeinst.
37 Wer hörte nicht Gualdradas Enkel nennen,
  Den Guidoguerra, dessen Schwert und Geist
  Wohl Puglia und Florenz als tüchtig kennen?  37-39
40 Der hinter mir den lockern Sand durchkreist,
  Tegghiajo ist's, deß Rath man noch auf Erden41
  Obwohl man ihm nicht folgt', als heilsam preist.
43 Ich, ihr Genoß in schrecklichen Beschwerden,
  Bin Jacob Rusticucci, und mich ließ  44
  Mein böses wildes Weib so elend werden." -
46 Wenn irgend was vor'm Feuer Schutz verhieß,
  So stürzt' ich gern mich unter sie hernieder,
  Auch litt, so glaub' ich, wohl mein Meister dies.
49 Allein verbrannt hätt' ich auch meine Glieder,
  Drum unterdrückte Furcht in mir die Lust,
  Die Jammervollen zu umarmen, wieder.
52 ""Nicht der Verachtung bin ich mir bewußt,""
  Begann ich ""nur des leids für euch Geplagte,
  Und schwer verwinden wird es meine Brust.
55 Ich fühlt' es, als mein Herr mir Worte sagte,
  Durch welche mir es deutlich ward und klar,
  Daß, wer hier komme, hoch auf Erden ragte.
58 Ich bin aus eurer Stadt und nimmerdar
  Wird eures Thuns ruhmvoll Gedächtniß schwinden59
  Das immer mir auch lieb und theuer war.
61 Ich ließ die Gall', um süße Frucht zu finden,  61
  Die mein wahrhafter Führer prophezeit,
  Doch muß ich erst zum Mittelpunkt mich winden.""
64 "Soll lang noch deine Seele das Geleit
  Der Glieder sein," so sprach nun Er dagegen,
  "Soll leuchten noch dein Ruf nach deiner Zeit,
67 So sage mir, bewohnen, wie sie pflegen,
  Wohl unsre Stadt noch Kraft und Edelmuth?
  Sind sie verbannt und völlig unterlegen?
70 Denn Borsiere, welcher diese Glut  70
  Seit Kurzem theilt, und dort mit Andern schreitet,
  Erzählt' uns Manches, was uns wehe thut! - "
73 ""Neu Volk und schleuniger Gewinn verleitet  73
  Zu Unmaß dich und Stolz, der dich bethört,
  Florenz, und dir viel Leiden schon bereitet!""
76 Ich rief's, das Aug' emporgewandt, verstört.
  Starr sahn die drei sich an bei meinen Reden,
  Wie man sich anstarrt, wenn man Wahrheit hört.
79 "Wir wünschen Glück, wenn du so wohlfeil Jeden
  Abfert'gen kannst," war Aller Gegenwort,
  "Und dir's bekommt, nach Herzenslust zu reden.
82 Entkommst du einst aus diesem dunklen Ort,
  Und siehst den Sternenglanz, den schönen, süßen,
  Und sagst dann froh und heiter: Ich war dort,
85 Vergiß dann nicht, die Welt von uns zu grüßen!" -
  Hier aber brachen sie den Kreis und flohn
  Voll Eil' und wie mit Flügeln an den Füßen.
88 Eh' man ein Amen ausspricht, waren schon
  Sie alle Drei aus meinem Blick verschwunden,
  Drum ging sogleich mein Meister auch davon.
91 Ich folgt' ihm nach, um Weitres zu erkunden,
  Worauf uns bald des Stroms Gebraus erklang,
  So nah, daß wir uns sprechend kaum verstunden.
94 Gleich jenem Flusse mit dem eignen Gang,
  Des Fluthen ostwärts vom Berg Veso toben
Vom Apennin, an seinem linken Hang;
97 - Das stille Wasser heißt er erst dort oben,
  Dann senkt er sich und wird bei Forli bald
  Des ersten Namens wiederum enthoben -
100 Deß Sturz dort ob Sanct Benedict erschallt,
Wo seine Wellen in den Abhang brausen,  94-101
Der groß für Tausend ist zum Aufenthalt:  102
103 So brach von einem Felsenhang voll Grausen  103
  Der rothgefärbte Fluß sich brüllend Bahn,
Und kaum ertrug das Ohr sein wildes Sausen.
106 Mit einem Stricke war ich umgethan,  106
Und manches Mal mit diesem Gurte dachte
Ich das gefleckte Pantherthier zu fahn.
109 Nachdem ich los von mir den Gürtel machte,
Wie ich vom Führer mir geboten fand,
Macht' ich ein Knäuel draus, das ich ihm brachte.
112 Er aber kehrte dann sich rechter Hand
Und schleuderte zum tiefen Felsenschlunde
Das Knäul hinunter ziemlich weit vom Rand.
115 ""Entsprechend,"" dacht' ich, ""muß die neue Kunde
Dem neuen Wink und diesem Blicke sein,
Womit mein Meister schaut zum tiefen Grunde.""
118 Stets präge doch der Mensch sich Vorsicht ein
Mit solchen, die des Herzens Sinn erspähen,
Und nicht sich halten an die That allein.
121 Er sprach: "Bald werden wir auftauchen sehen,
Was ich erwart'; und das, was du gedacht,
Wird deutlich bald vor deinen Blicken stehen." -
124 Bei Wahrheit, die der Lüge gleicht, habt Acht,
So viel ihr könnt, euch nimmer auszusprechen,
Sonst werdet ihr ohn' eure Schuld verlacht.
127 Doch kann ich mich zu reden nicht entbrechen,
Und schwör, o Leser, dir, bei dem Gedicht,
Dem nimmer möge Huld und Gunst gebrechen:
130 Ich sah durch jene Lüfte schwarz und dicht
Ein Bild, nach oben schwimmend, sich erheben,
Dem Kühnsten wohl ein wunderbar Gesicht,
133 Wie Jemand kehrt, der sich hinabbegeben133
Den Anker, der im Felsenriffe steckt,
Zu lösen, wenn er sich beim Aufwärtsstreben
136 Von unten einzieht und nach oben streckt.

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Siebenzehnter Gesang

Erläuterungen:

1 Dies Brausen kommt von dem Wasserfalle des Phlegeton, welcher sich, wie wir in V. 92. ff. näher erfahren, in den achten Kreis hinabstürzt.

16-18 Wenn sie nicht, wie der Feuerregen bezeugt, hier als Sodomiter bestraft wären (oder auch, wenn nicht der Feuerregen dich hinderte), so würdest du, weil sie im Leben angesehenere Leute waren, als du, Veranlassung haben, ihnen eilig entgegen zu gehen, und nicht ihr Entgegenkommen zu erwarten. - Daher auch die Aufforderung zur Höflichkeit V. 15.

22-27 Die Beschreibung, welche in diesen sechs Versen enthalten ist, erscheint beim ersten Blicke vielleicht undeutlich. Aber sie wird immer klarer und plastischer, je näher man sie betrachtet. Kaum dürfte von irgend einem andern Dichter in so wenig Zeilen ein so bewegtes Gemälde aufgestellt worden sein.

Im funfzehnten Gesange V. 37 haben wir erfahren, daß keiner von denen, welche durch den Feuerregen laufen, je still stehen darf. Den Dreien, die sich jetzt dem auf dem Damme stehenden Dichter nähern, bleibt also, wenn sie ihn sprechen wollen, nichts weiter übrig, als sich immer vor ihm herum zu bewegen. Die kreisförmige Bewegung bleibt hierbei die natürlichste, weil sie ihm dabei am wenigsten den Rücken zukehren, auch nicht umzuwenden brauchen, wie dies geschehen müßte, wenn sie entlang des Dammes vor ihm auf- und abgingen. Weil aber ihre Füße die kreisförmige Bewegung machen, während ihr Gesicht sich so viel als möglich dem Dichter zukehrt, mit welchem sie sprechen, so muß freilich ihr Hals eine andere Richtung nehmen als der Fuß. Dieses Drehen des Halses und das Verfolgen im Kreise macht sie aber den Kämpfern ähnlich, die vor dem Gefechte ihren Vortheil absehen wollen.

37-39 Gualdrada, eine edle Florentinerin, Tochter des Bellincion Berti, welchen des Dichters Ahn, Cacciaguida, im Paradiese Ges. 15 V. 112 wegen seiner Einfachheit lobt. Ihr Enkel Guidoguerra zeichnete sich durch Tapferkeit in der Schlacht bei Benevent unter den Fahnen Carls von Anjou aus.

41 Tegghiajo Aldobrandini widerrieth den Guelfen, die Schlacht an der Arbia zu wagen, und sagte ihren unglücklichen Ausgang voraus.

44 Jacob Rusticucci, ein reicher Florentiner, hatte das Unglück, sich mit einer Xanthippe zu verheirathen, und fiel, als er sich von ihr getrennt hatte, aus Langerweile in das Laster, das hier bestraft wird.

59 Ueber die Rechtlichkeit seines politischen Benehmens s. oben Gesang 6 V. 79. 80.

61 Hindeutung auf den Zweck der Reise, der in den beiden ersten Gesängen angegeben ist.

70 Borsiere, nach Boccaccio ein gewandter und feiner Weltmann. Man wird nicht unbemerkt lassen, wie viele gleichzeitige ausgezeichenete Männer vom Dichter des Lasters beschuldigt werden, das hier bestraft wird.

73 Biagioli, einer der neueren Commentatoren, nennt es mit Recht einen Meisterzug, der des Dichters Gesinnung lebendiger, als die weitläufigste Beschreibung, ausdrückt, daß er, den Schatten Antwort gebend, sich nicht an sie kehrt, sondern in einen Ausruf ausbricht. In diesem Ausrufe, in dem emporgewandten Gesicht, zeigt sich mit der ansprechendsten Innigkeit das Gefühl des Verbannten, in welchem Liebe für sein Vaterland, Trauer über dessen Zustand und Groll über das ihm widerfahrene Unrecht kämpfen. Nicht minder meisterhaft ist die Art beschrieben, in der die Schatten, sich über jenen Ausruf äußernd, darauf hindeuten, daß die Freimüthigkeit des Dichters nicht ohne üble Folgen für ihn bleiben werde. - Zum Verständniß des Ausrufs ist zu bemerken, daß Florenz zu jener Zeit durch Ansiedelung von Landbewohnern und Fremden an Bevölkerung sehr gewonnen hatte.

94-101 Der hier beschriebene Fluß ist der Montone, welcher auf den Apenninen entspringt und nicht wie die anderen dortigen Flüsse sich mit dem Po vereinigt, sondern bis zum Meere sein eigenes Bett behält.

102 Die Benedictiner-Abtei soll so reich an Ländereien sein, daß wohl Tausende sich darin nähren und ansiedeln könnten.

103 Daß der Strom, welcher den Kreis der Gewaltthätigen durchschneidet, tosend in den Kreis der Betrüger hinunterstürzt, wo er dann wahrscheinlich still weiter läuft, dürfte ebenfalls nicht ohne moralische Bedeutung sein.

106 In der Einleitung ist erwähnt, daß nach einigen Nachrichten Dante für den Franziskaner-Orden bestimmt war. Hier erfahren wir, daß er wenigstens den Strick getragen, mit welchem die Brüder dieses Ordens sich umgürten. Er hatte gehofft, mit diesem Stricke das bunte Pantherthier (die jugendliche Begier, die Wollust) zu zähmen. Vergebens! Jetzt auf das Gebot der Vernunft, macht er sich von dem Stricke los und läßt ihn von derselben in den Abgrund schleudern. Und was taucht aus diesem dafür auf? - das Bild des Betrugs!

133 Die Gestalt bewegte sich wie ein Mann, welcher untergetaucht ist, um einen Anker vom Felsen los zu machen, wenn er wieder in die Höhe schwimmt, wobei er die Schenkel an den Leib zieht, die Hände aber von sich streckt. Das Bild wird Jedem klar sein, welcher einen Menschen im Meere hat untertauchen und wieder gerade emporschwimmen sehen.