Uebersicht

Die Hölle
Zwölfter Gesang

1 Rauhfelsig war der Steig am Strand hernieder, 2
  Ob deß, was sonst dort war, der Schauer groß,
  Und jedem Auge drum der Ort zuwider.
4 Dem Bergsturz gleich bei Trento - in den Schooß 4
  Der Etsch ist seitwärts Trümmerschutt geschmissen,
  Durch Unterwühlung oder Erdenstoß. -
7 Wo von dem Gipfel, dem er sich entrissen,
  Der Fels so schräg ist, daß zum ebnen Land,
  Die oben sind, den Steg nicht ganz vermissen; 8-9
10 So dieses Abgrunds Hang, und dort am Rand
  War's, wo, von Felsentrümmern überhangen,
  Sich ausgestreckt die Schande Kreta's fand, 12
13 Einst von dem Scheinbild einer Kuh empfangen.
  Sich selber biß er, als er uns erblickt,
  Wie innerlich von wildem Grimm befangen.
16 Mein Meister rief: "Bist du vom Wahn bestrickt,
  Als säh'st du hier den Theseus vor dir stehen,
  Der dich von dort zur Höll' herabgeschickt?
19 Fort, Unthier, fort. Den Weg, auf dem wir gehen,
  Nicht deine Schwester hat ihn uns gelehrt,
  Doch dieser kommt, um eure Qual zu sehen."
22 So wie der Stier, vom Todesstreich versehrt,
  Emporsetzt, und nicht gehen kann, nur springen,
  Und Satz um Satz hierhin und dorthin fährt,
25 So sahen wir den Minotaurus ringen,
  Drum rief Virgil: "Itzt weiter ohne Rast;
  Indeß er tobt, ist's gut hinab zu dringen."
28 So klommen wir, von Trümmern rings umfaßt,
  Auf Trümmern sorglich fort, und oft bewegte
  Ein Stein sich unter mir der neuen Last,
31 Ich ging, indem ich sinnend überlegte,
  Und Er: "Du denkst an diesen Schutt, bewacht,
  Von Zornwuth, die vor meinem Wort sich legte.
34 Vernimm jetzt, als ich in der Hölle Nacht
  Zum erstenmal so tief herabgedrungen, 35
  War dieser Fels noch nicht herabgekracht,
37 Doch kurz, eh jener sich herabgeschwungen
  Vom höchsten Kreis des Himmels, der dem Dis
  So edler Seelen großen Raub entrungen,
40 Erbebte so die grause Finsterniß,
  Daß ich die Meinung faßte, Liebe zücke 41
  Durch Weltenall, und stürz' in mächt'gem Riß
43 Ins alte Chaos neu die Welt zurücke.
  Der Fels, der seit dem Anfang fest geruht,
  Ging damals hier und anderwärts in Stücke.
46 Doch blick' ins Thal; schon naht der Strom von Blut, 46
  In welchem Jeder siedet, der dort oben
  Dem Nächsten durch Gewaltthat Wehe thut." 49
49 O blinde Gier, o toller Zorn! eu'r Toben,
  Es spornt uns dort im kurzen Leben an,
  Und macht uns ewig dann dies Bad erproben. -
52 Hier ist ein weiter Graben, der den Plan
  Ringshin umfaßt in weitem rundem Bogen,
  Wie mir mein weiser Führer kund gethan.
55 Centauren, rennend, pfeilbewaffnet, zogen,
  Sich folgend zwischen Fluß und Felsenwand,
  Wie in der Welt, wenn sie der Jagd gepflogen.
58 Als sie uns klimmen sahn, ward Stillestand;
  Drei traten vor mit ausgesuchten Pfeilen,
  Und schußbereit den Bogen in der Hand.
61 Und einer rief von fern: "Ihr müßt verweilen!
  Zu welcher Qual kommt ihr an diesen Ort?
  Von dort sprecht, sonst soll euch mein Pfeil ereilen!"
64 "Dem Chiron sagen wir dort nah ein Wort."
  Sprach drauf Virgil. "Zum Unheil dich verführend
  Riß vorschnell stets der blinde Trieb dich fort."
67 "Nessus ist dieser," sprach er, mich berührend, 67
  "Der starb, als Dejaniren er geraubt,
  Doch aus sich selbst die Rache noch vollführend,
70 Der in der Mitt' ist, mit gesenktem Haupt,
  Der große Chiron, der Achillen nährte; 71
  Dort Pholus, welcher stets vor Zorn geschnaubt. 72
73 Am Graben rings gehn tausend Pfeilbewehrte,
  Und schießen die, so aus dem Pfuhl herauf
  Mehr tauchen, als der Richterspruch gewährte."
76 Wir beide nahten uns dem flinken Hauf,
  Chiron nahm einen Pfeil, und strich vom Barte
  Das Haar nach hinten sich mit seinem Knauf.
79 Als nun der große Mund sich offenbarte,
  Sprach er: "Bemerkt: der hinten kommt, bewegt, 80
  Was er berührt, wie ich es wohl gewahrte,
82 Und wie's kein Todtenfuß zu machen pflegt."
  Da trat ihm an die Brust mein weiser Leiter,
  Wo Mensch und Roß sich einigt und verträgt.
85 "Lebendig ist," so sprach er, "der Begleiter,
  Der dieses dunkle Thal mit mir bereist;
  Nothwendigkeit, nicht Schaulust zieht uns weiter.
88 Von dort, wo Gott ihr Halleluja preißt,
  Kam Eine her, dies Amt mir aufzutragen;
  Er ist kein Räuber, ich kein böser Geist.
91 Doch, bei der Kraft, durch die ich sonder Zagen
  Auf wildem Pfad im Schmerzensland erschiehn,
  Gieb einen uns von diesen, die hier jagen,
94 Daß er die Furt uns zeig' und jenseits ihn
  Trag' auf dem Kreuz ans andere Gestade,
  Denn Er, kein Geist, kann durch die Luft nicht ziehn."
97 "Auf, Nessus, leite sie auf ihrem Pfade,"
  Rief Chiron rechts gewandt, "bewahre sie,
  Daß sonst kein Trupp der Unsern ihnen schade."
100 Da solch Geleit uns Sicherheit verlieh,
  So gingen wir am rothen Sud von hinnen,
  Aus dem die Rotte der Gesottnen schrie.
103 Bis zu den Brauen waren viele drinnen.
  "Tyrannen sind's, erpicht auf Gut und Blut,"
  So hört' ich den Centauren nun beginnen.
106 "Hier weinen sie ob mitleidloser Wuth,
  Den Alexander sieh, und Dionysen, 107
  Der auf Sicilien Schmerzensjahre lud.
109 Die schwarzbehaarte Stirn sieh neben diesen,
  Den Ezzelin - und jener Blonde dort 110
  Ist Obiz Este, der, wie's klar erwiesen, 111
112 Vertilgt ward durch des Rabensohnes Mord."
  Den Dichter sah ich an, der sprach: "der zweite 113
  Bin ich, der erste der, merk' auf sein Wort."
115 Und weiter gab uns Nessus das Geleite
  Und stand bei Andern, welche bis zum Rand
  Des Munds der Richterspruch vom Sud befreite.
118 Und seitwärts zeigt' er einen mit der Hand:
  "Der macht' einst am Altar das Herz verbluten, 119
  Daß man noch jetzt werehrt am Themse-Strand."
121 Und Viele hielten aus den heißen Fluten 121 ff.
  Das ganze Haupt, dann Brust und Leib gestreckt,
  Auch kannt' ich Manchen in den nassen Gluten.
124 Stets seichter ward das Blut, so das bedeckt,
  Am Ende nur der Schatten Füße waren,
  Und dorten ward des Grabens Furt entdeckt.
127 Da sagte der Centaur: "Du wirst gewahren,
  Wie immer seichter hier das Blut sich zeigt.
  Jetzt aber, will ich, sollst du auch erfahren,
130 Das dort der Grund je mehr und mehr sich neigt,
  Bis wo die Flut verrinnt in jenen Tiefen,
  Woraus das Seufzen der Tyrannen steigt.
133 Gerechter Zorn und Rache Gottes riefen
  Dorthin der Erde Geißel, Attila, 133-34
  Pyrrhus und Sextus; und von Thränen triefen,
136 Von Thränen, ausgekocht vom Blute, da 137
  Die beiden Rinier, arge Raubgesellen,
  Die man die Straßen hart bekriegen sah. - "
139 Hier wandt' er sich, rückeilend durch die Wellen. 139

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Dreizehnter Gesang

Erläuterungen:

2 Wahrscheinlich ist in diesem Verse vorläufig auf den Minotaurus hingedeutet.

4 Ein Theil des Berges Barco hat sich zwischen Trient und Trevigi in die an seinem Fuße hinfließende Etsch gestürzt, wie noch jetzt dort zu erkennen ist.

8-9 Diese Stelle wird, dem Wortsinne entgegen, von den Auslegern so gedeutet, daß von oben kein Weg in die Ebene zu finden sei. Da aber hier ein Gleichniß der Oertlichkeit aufgestellt ist, in welcher die Dichter sich befinden, und diese V. 28-30 wirklich am Abhange herab über die Felsen einen Weg finden, so würde nach jener Deutung das Gleichniß falsch sein. Wir haben uns daher lediglich an den Wortsinn gehalten.

12 Pasiphae, die Gemahlin des Minos, Königs von Kreta, wurde von Liebe für einen Stier entzündet und befriedigte ihre Neigung, indem sie sich im Scheinbilde einer Kuh verbarg. Sie gebar den Minotaurus, der halb Mensch, halb Stier war - ein Ungeheur, welchem jährlich sieben Mädchen und sieben Knaben aus Athen geliefert werden mußten. Ihn tödtete Theseus mit Hülfe Ariadne's, der Tochter des Minos, die ihm durch einen Faden den Rückweg aus dem Labyrinth, dem Aufenthalte des Minotaurus, sicherte. In dieser phantastischen Gestalt des Minotaurus erkennen wir das Symbol der drei Arten von Gewaltthätigkeit, der gegen Gott durch seine Entstehung, gegen den Nächsten durch den Tribut Athens, und gegen sich selbst durch das, was V. 14 von ihm gesagt ist.

35 Vgl. Ges. 9. V. 19 ff. Die hier erzählte Begebenheit ist das Erdbeben bei Christi Tod.

41 Empedokles lehrte, die Welt bestehe aus den vier Elementen, welche durch drei Urkrafte, Liebe, Feindschaft und Zufall, bewegt würden. Liebe verbinde das Gleichartige, Feindschaft aber treibe das Ungleichartige gegen einander und gebe dadurch der Welt ihre Gestalt und ihre das Verschiedenartigste in sich vereinigenden Erscheinungen. Ohne diese Feindschaft, durch das bloße Walten der Liebe, würde daher die Erde ihre Gestalt verlieren und ins Chaos zurückfallen.

46 Der Strom von Blut, in welchem wir diejenigen, welche gegen den Nächsten Gewalt verübt, bestraft sehen, bedarf in Beziehung auf das Verhältniß der Strafe zum Verbrechen keiner Erläuterung. Wegen der Centauren V. 55 ff. ist sich auf die Bemerkung Ges. 3 V. 82 zu beziehen.

49 Die Zornigen haben wir bereits oben unter den Unenthaltsamen im fünften Kreise bestraft gesehen. Hier ist von denjenigen die Rede, die von ihrer Leidenschaft wirklich zu Gewaltthaten verführt worden sind.

67 Nessus entführte die Dejanira, als er sie auf Herkules Geheiß über den Fluß Evenus trug. Aber Herkules durchschoß ihn mit einem in das Blut der lernäischen Schlange getauchten Pfeile. Er rächte sich, indem er, ehe er starb, die Dejanira überredete, daß ein mit seinem vergifteten Blute getränktes Gewand ihr die Treue des Herkules sichern werde. Ein solches Gewand brachte später dem Herkules die Qualen, die er auf dem Scheiterhaufen endete.

71 Chiron, ein Sohn des Saturn, war der Lehrer des Achilles, und stand im Rufe hoher Weisheit. Das gesenkte Haupt deutet wahrscheinlich auf Nachdenken.

72 Pholus, ein Genosse beim Raube der Hyppodamia.

80 An der Bewegung der Steine, welche Dante betritt, bemerkt Chiron, daß derselbe ein Lebender ist, weil die leichten Schatten darüber hinzugleiten pflegen, ohne eine solche Bewegung zu veranlassen.

107 Alexander, wahrscheinlich nicht Philipps Sohn, welchen der Dichter im Convito sehr rühmt, sondern Alexander Phereus, Tyrann von Thessalonien - Dyonisius, Tyrann von Syrakus.

110 Ezzelino di Romano, auch d'Onara genannt, Herr von Trevigi, Statthalter Friedrich des Zweiten, in der Trevigianer Mark und dessen mächtiger Bundesgenosse, der blutigste der vielen kleinen Tyrannen, welche das heillose Zeitalter erzeugte, dessen Verhältnisse so viele Thoren unserer Zeit so gern zurückführen möchten; mit Recht vom Dichter so tief in das siedende Blut getaucht, daß nur die schwarz behaarte Stirn noch vorragt.

111 Obiz von Este, Markgraf von Ferrata und der Mark Ancona, ein räuberischer und grausamer Tyrann, welchen sein eigner Sohn getödtet haben soll. Der Dichter nimmt diese That, die niemals ganz ins Klare gebracht worden, für erwiesen an.

113 Virgil weist den Dichter, der sich zu ihm gewandt, an Nessus, der ihn besser belehren kann, als Er.

119 Guido von Montfort. Um seinen Vater zu rächen, der in England zum Tode verurtheilt worden war, ermordete er Heinrich, Prinzen von England, im Jahre 1270 zu Viterbo in der Kirche, in dem Augenblicke, da die Hostie erhoben wurde, mit einem Dolchstoße. Das Herz Heinrichs wurde nach London gebracht.

121 ff. Nach der Größe ihrer Verbrechen stecken die Gewaltthätigen mehr oder minder tief im Blutstrome, so daß die größten Uebelthäter darin ganz verborgen, den geringsten aber nur die Füße davon bedeckt sind.

133-34 Attila, der Hunnenkönig, die Geißel Gottes. - Pyrrhus, König von Epirus, der Römerfeind und Verwüster Griechenlands. - Sextus, entweder Sextus Pompejus, der Seeräuber, oder der Kaiser Sextus Claudius Nero, oder Sextus, der Sohn des letzten römischen Königs, welcher durch Lucretiens Entehrung Veranlassung zum Sturze des Königsthums gab.

137 Rinier von Corneto und Rinier de Pazzi, beide verrufene Räuber und Mörder.

139 Es ist nicht deutlich ausgesprochen, daß Nessus den Dichter wirklich nach den V. 91 u. 95 vom Virgil dem Chiron vorgetragenen Bitten über den Blutstrom gebracht, wie und wo er ihn auf den Rücken genommen und wieder abgesetzt habe. Da aber Danter herüber ist, ohne sich die Füße verbrannt zu haben, so müssen wir annehmen, daß es geschehen sei.