Uebersicht

Die Hölle.

Zehnter Gesang.

1 Fort ging nun, hier die Mauer, dort die Pein,
Auf still verborgnem Pfad der edle Weise,
Er mir voraus und ich ihm hinterdrein
4 ""Der du mich führst durch die verruchten Kreise,""

Sprach ich, ""ich wünsche, daß, wenn dir's gefällt,

Dein Wort auch ferner hier mich unterweise.
7 Darf man die sehn, die jedes Grab enthält?
Die Deckel, offen schon, sind nicht dawider,
Auch ist zur Wache Niemand aufgestellt.""
10 "Jedweder Deckel sinkt geschlossen nieder,"
Sprach Er, "wenn sie gekehrt von Josaphat,  11
Mitbringend ihre dort gelassnen Glieder.
13 Wiss', Epicurus liegt an dieser Statt,
Sammt seinen Jüngern, die vom Tode lehren,
Daß er so Seel' als Leib vernichtet hat.
16 Befriedigung soll also dem Begehren,  16
Daß du entdecktest dies Begräbniß hier,
So wie den Wunsch, den du verschwiegst, gewähren."
19 Und ich: ""Mein Herz verberg' ich nimmer dir.  19
Nur redet' ich in bündig kurzem Worte,
Und nicht nur jetzt empfahlst du solches mir.""
22 "Toskaner, du, der lebend durch die Pforte
Der Feuerstadt, so ehrbar sprechend, drang,
Verweil, ich bitte dich, an diesem Orte.
25 O, ich erkenn' an deiner Sprache Klang,
Du seist dem edlen Vaterland entsprungen,
Dem ich, ihm nur zu lästig, auch entsprang."
28 Urplötzlich war dies einem Sarg entklungen,
Drum trat ich etwas näher meinem Hort,
Denn wieder war mein Herz von Furcht durchdrungen.
31 "Was thust du? Wende dich!" rief er sofort,
"Sieh grad' empor den Farinata ragen,
Vom Gürtel bis zum Haupte sieh ihn dort!"
34 Ich, der auf sein Gesicht den Blick geschlagen,
Sah, wie er hoch mit Brust und Stirne stand,
Als lach' er nur der Höll' und ihrer Plagen.
37 Mein Führer, der mich schnell mit muth'ger Hand
Durch Gräber bis zu ihm mit fortgenommen,
Sprach: "Was er fragt, mach' offen ihm bekannt."
40 Er sah mich, als ich bis zum Grab gekommen,
Ein wenig an. "Wer deine Väter? sprich!"
So fragt' er mich und schien vor Zorn entglommen.
43 Gern fügt ich dem Befehl des Meisters mich,
Ihm Alles unverstellt zu offenbaren,
Da hoben etwas seine Brauen sich.
46 Er sprach darauf: "Furchtbare Gegner waren  46
Sie meinen Ahnen, mir und meinem Theil,
Und zweimal drum vertrieb ich sie in Schaaren."
49 ""Wenn auch vertrieben, kehrten sie in Eil,""
Sprach ich, ""zweimal zurück aus jeder Gegend,
Doch nicht den Euren ward die Kunst zu Theil.""
52 Sieh, da erhob, sich neben Jenem regend,
Ein Schatten sich urplötzlich bis zum Kinn,  53
Sich auf den Knie'n, so schien's , empor bewegend.
55 Er blickt' um mich nach beiden Seiten hin,
Als woll' er sehn, ob Jemand mich begleite,
Doch floh der Irrthum bald aus seinem Sinn,
58 Und weinend sprach er dann: "Wenn dein Geleite
Des Geistes Hoheit ist durch diese Nacht,
Wo ist mein Sohn? warum nicht dir zur Seite?"
61 ""Nicht eigner Geist hat mich hierher gebracht,  61-62
Der dort harrt, führte mich ins Land der Klagen,
Dein Guido hatte sein vielleicht nicht Acht.""
64 So ich  -  beim Wort und bei der Art der Plagen
Konnt' ich wohl seines Namens sicher sein,
  Und drum ihm auch so sicher Antwort sagen.
67 Schnell richtet' er sich auf mit lautem Schrei'n:
"Er hatte, sagst du? ist er nicht am Leben,
Saugt nicht sein Auge mehr den süßen Schein?"
70 Und da ich nun, statt Antwort ihm zu geben,
Noch zauderte, so fiel er rücklings hin,
Um fürder sich nicht wieder zu erheben.  67-72
73 Doch jener Andre mit dem stolzen Sinn,
Der mich gerufen, blieb auf seiner Stätte
Starr, ungebeugt und trotzig wie vorhin.
76 Er, neu verknüpfend seiner Rede Kette:
"Ward jene Kunst zu Theil den Meinen nicht?
Dies martert mehr mich noch als dieses Bette.
79 Doch wird nicht funfzigmal sich das Gesicht  79
Der Herrin dieses Dunkels neu entzünden,
So wirst du fühlen dieser Kunst Gewicht.
82 Sprich, willst du je zurück aus diesen Gründen,  82
Wie gegen mein Geschlecht mag solche Wuth
Das Volk in jeglichem Gesetz verkünden?"
85 Ich sprach: ""Das groß Morden ist's, das Blut,
Das rothgefärbt der Arbia klare Wogen,
Das eu'r Geschlecht mit solchem Fluch belud.""
88 Er seufzt' und schüttelte das Haupt: "Vollzogen
Hab' ich allein nicht diese blut'ge That,
Und Alle hat uns trift'ger Grund bewogen.
91 Doch ich allein war's, der dem grausen Rath:
Es müsse bis zum Grund Florenz verschwinden,
Mit offnem Angesicht entgegentrat."
94 ""Soll euer Same jemals Ruhe finden,""
So sprach ich bittend, ""löst die Schlingen hier,
Die noch, mein Urtheil hemmend, mich umwinden.
97 Versteh' ich recht, so scheint es wohl, daß ihr
Erkennen mögt, was künft'ge Zeiten bringen,
Doch mit der Gegenwart scheint's anders mir.""
100 Er sprach: "Uns trägt der Blick nach fernen Dingen,
Wie's öfters wohl der schwachen Sehkraft geht,  101
Denn dahin läßt der höchste Herr uns dringen.
103 Doch naht sich und erscheint, was wir erspäht,
Weg ist das Wissen, und nur durch Berichte
Erfahren wir, wie's jetzt auf Erden steht.
106 Darum begreifst du: einst beim Weltgerichte,
Wenn sich der Zukunft Thor auf ewig schließt,
Wird die Erkenntniß unsers Geists zu nichte."
109 Drauf ich: ""Wie jetzt mein Fehler mich verdrießt!  109
O sagt dem Hingesunknen, Trostentblößten,
Daß noch sein Sohn das heitre Licht genießt.
112 Und war ich vorher säumig, ihn zu trösten,
So sagt ihm, daß ich Raum dem Irrthum gab,
Den eben jetzt mir eure Worte lös'ten.""
115 Hier rief mein Meister schon mich wieder ab,
Drum bat ich schnell den Geist, mir zu erzählen,
Wer noch verborgen sei in seinem Grab.
118 Er sprach: "Hier liegen mehr als tausend Seelen,
Der Kardinal, der zweite Friederich,  119
Und Andre, die's nicht Noth thut, aufzuzählen."
121 Und er versank, ich aber kehrte mich
Zum alten Dichter, jene Red' erwägend,
Die einer Unglücks-Prophezeiung glich.
124 Er aber ging und sprach, sich vorbewegend,
Zu mir gewandt: "Was bist du so verstört?"
Ich that's ihm kund, die Angst im Herzen hegend.
127 "Behalte, was du Widriges gehört,"
Sprach mit erhobnem Finger jener Weise,
"Und merk' jetzt auf, daß dich kein Trug bethört.
130 Bist du dereinst im süßen Strahlenkreise,
Verströmt vom schönen Blick, der Alles sieht,
Dann deutet sie dir deine Lebens-Reise."
133 Nun ging es links ins höllische Gebiet,
  Um von der Mau'r der Mitte zuzuschreiten,
  Wo sich der Pfad nach einem Thale zieht,
136 Von dem Gestank und Qualm sich weit verbreiten.

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Elfter Gesang

Erläuterungen:

11  Im Thale Josaphat wird nach dem Propheten Joel (Kap. 3 V. 2) das allgemeine Weltgericht gehalten werden. Vergl. Anmerk. zu v. 118 Ges. 18. [Lutherbibel Standardausgabe 1985: Joel Kap. 4 V. 3 u. 12: "....will ich alle Heiden zusammenbringen und will sie ins Thal Joschafat hinabführen und will dort mit ihnen rechten .... "  -  "Die Heiden sollen sich aufmachen und heraufkommen zum Tal Joschafat; denn dort will ich sitzen und richten alle Heiden ringsum"]. Die Ausleger suchen den Grund, aus welchem dann die Gräber sich schließen sollen, darin, daß bis dahin noch neue Ketzer darin aufgenommen werden müssen, mit dem jüngsten Tage aber die Ketzerei, folglich die Nothwendigkeit die Gräber für neue Ankömmlinge offen zu halten, aufhören werde.

16  Das entdeckte Begehren ist das, die Bewohner dieser Gräber zu sehen, (V 7.) Der verschwiegene Wunsch ist der, auch von dem Zustande derselben im Leben näher unterrichtet zu werden. Der Dichter vermuthete Bekannte hier zu finden, weil die in diesem Grabe Liegenden von Virgil als Epikuräer bezeichnet waren.

19  Ges. 3 V. 76 wurde Dante erinnert, nicht zu viel und nicht voreilig zu fragen.

46  Die nöthigen Notizen über Farinata und die in den nächsten Versen angedeuteten Begebenheiten sind in der Einleitung enthalten. Man wird sich daraus erinnern, daß Farinata ein Häuptling der Ghibellinen war, Dante's Geschlecht aber, so wie früher er selbst, den Guelfen angehört hatte.

53  Der hier sich erhebende Schatten ist Cavalcante Cavalcanti, dessen Sohn Guido zu den vertrautesten Freunden des Dichters gehörte. Als der Vater durch Dante's Antwort auf Farinata's Fragen vernommen hat, wer der Sprechende sei, vermuthet er, daß, wenn der eine Freund durch die Hoheit seines Geistes in die Hölle eingedrungen sei, auch der andere, sein Sohn, nicht fern sein könne. Das Suchen der väterlichen Augen nach dem Sohne, ist V. 55 und 56 sehr plastisch ausgedrückt. Daß Farinata sich bis zum Gürtel, Cavalcante nur bis zum Knie aus dem Grabe erhebt, mag die mehrere oder mindere Keckheit und Heftigkeit des Einen und des Andern bezeichnen.

61 - 62  Nicht die Hoheit seines Geistes (ingegno, Genie) hat den Dichter hierher geführt, sondern die Vernunft, welche nicht immer die Hochbegabten leitet. Vielleicht hatte Guido dieses Führers nicht geachtet. Uebrigens war Guido, obwohl einige Gedichte von ihm sich erhalten haben, doch mehr Philosoph als Dichter, daher V. 63 auch nach dem Wortsinne ausgelegt werden kann: Er hat vielleicht die Werke des Virgil nicht studirt.

67 - 72  Die Worte: Er hatte - machten den Vater glauben, sein Sohn lebe nicht mehr. Erst nur bis zum Knie über das Grab hervorragend, richtet er sich bei dieser Vermuthung schnell ganz empor, und fällt zurück, als Dante mit der Antwort zögert. - Wie schön hier Vaterliebe und Gram mit wenigen Worten in bestimmter in sich vollendeter Handlung dargestellt sind, wird jeder Leser bemerken. Dies Bild des liebevollen, von Schmerz niedergebeugten Vaters gewinnt an Wirkung durch den Gegensatz, welchen uns der gewaltige trotzige Farinata darstellt, der, ohne sich um das Vorgefallene zu bekümmern, V. 76 das vorher abgebrochene Gespräche wieder anknüpft.

79  Die Herrin dieses Dunkels ist die dreigestaltige Göttin Proserpina, die auch als Diana und Luna erscheint. Von einem Ereignisse, das in noch nicht volle funfzig Monden sich zutragen wird, ist daher die Rede. Die Kunst ist nach V. 49-52 die: aus der Verbannung zurückzukehren, daher denn auf die im Jahre 1304 fruchtlos versuchte Rückkehr der Weißen hingedeutet ist. (S. die Einleitung.) Du wirst das Gewicht dieser Kunst fühlen, (quanto quell' arte pesa) heißt: der fruchtlose Versuch wird dich belehren, wie schwer diese Kunst ist.

82  Wenn die Verbannten zurückgerufen wurden, blieben immer die Uberti, von deren Geschlechte Farinata war, ausgeschlossen.

101  Hier und an anderen Orten sagen die Verdammten Künftiges vorher, ohne daß wir erfahren, woher ihnen diese Gabe der Wahrsagung und die mit ihr verbundene Unfähigkeit, das Gegenwärtige zu erkennen, kommt. Das an sich treffende Gleichniß von der schwachen Sehkraft, welche das Nahe nicht erkennt, aber in die Ferne trägt, stellt die Erscheinung dar, ohne den Grund derselben zu erläutern. Denn wollten wir in diesem Bilde ein Symbol des Geistes- und Seelenzustandes der Sünder im Leben suchen, so müßten wir es als ganz falsch erkennen, da diejenigen, die das Sittengesetz verletzen, sich als schlechte Kenner der Zukunft und der Folgen zeigen, welche eine solche Verletzung später oder früher, aber unausbleiblich nach sich zieht. Vielleicht beruht die ganze Darstellung auf den Begriffen der damaligen Zeit von dem Zustande und den Kräften der abgeschiedenen Seelen. Wenn wir im Paradiese Prophezeiungen der Seligen finden, so erläutern sich diese vollständig dadurch, daß sie Gott anschauend, in ihm, wie in einem Spiegel, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen.

109  Der Dichter hat dem Cavalcante nach V. 70 nicht sofort über das Leben seines Sohnes Auskunft gegeben, weil er irrig geglaubt, die Geister müßten, wie sie das Künftige voraussehen, auch die Gegenwart erkennen. Jetzt trägt er dem Farinata auf, sein Schweigen mit diesem Irrthume zu entschuldigen.

119  Der Kardinal Octavian degli Urbini, verdächtig, im Herzen ein Ghibellin und Anhänger des Epikur gewesen zu sein. Auch der Charakter Friedrich des Zweiten, des Hohenstaufen, wie ihn Raumer in seiner Geschichte dieses Geschlechts Th. 3 S. 567 ff. schildert, war ganz dazu geeignet, ihn dem Vorwurfe bloß zu stellen, daß er ein Epikuräer sei.