Uebersicht

Die Hölle.

Neunter Gesang.

1 Weil ich vor Angst und banger Furcht erblich,
Als ich den Herrn sah sich zurückbewegen,
Verschloß Virgil die eigne Furcht in sich.
4 Aufmerksam stand er dort, wie Horcher pflegen,
Denn, weit zu schaun, war ihm die Dunkelheit
Der schwarzen Luft und Nebelqualm entgegen.
7 Er sprach: "Wir siegen doch in diesem Streit  -  7
Wenn nicht  -  doch hab' ich nicht ihr Wort vernommen?
Er säumt fürwahr doch gar zu lange Zeit."
10 Ich sah es deutlich ein, zurückgenommen
Sei durch der Rede Folge der Beginn,
Da beide mir verschieden vorgekommen,
13 Drum lauscht' ich sorgenvoll und zagend hin,
Denn ich erklärte mir vielleicht noch schlimmer,
Als er es war, des halben Wortes Sinn.
16 ""Kommt wohl ein Geist in diese Tiefe nimmer  16
Vom ersten Grad, wo nichts zur Qual gereicht,
Als das erstorben jeder Hoffnungs-Schimmer?""
19 So fragt' ich ihn, und Jener sprach: "Nicht leicht
Geschieht's, daß auf dem Weg, den wir durchliefen,
Ein Andrer meines Grads dies Land erreicht.
22 Wahr ist's, daß ich vordem in diesen Tiefen
Durch der Erichto Zauberei'n erschien,
Die oft den Geist zum Leib zurückberiefen.
25 Kaum war mein Fleisch des Geistes baar, als ihn
Die Zauberin beschwor in jene Mauer,
Um eine Seel' aus Judas Kreis zu ziehn.
28 Dort ist die tiefste Nacht, der bängste Schauer,
Am fernsten von des Himmels ew'gem Licht.
Ich weiß den Weg  -  drum scheuche Furcht und Trauer.
31 Der Sumpf hier, welcher Stank verhaucht, umflicht
Die qualenvolle Stadt, durch deren Pforten
Man ohne Zorn die Bahn sich nimmer bricht."
34 Mehr sprach er, doch mich zog von seinen Worten
Der hohe Thurm und bannte mit Gewalt
Den Blick ans Feuer auf den Gipfel dorten.
37 Drei Höllenfurien sah ich dort alsbald,
Die blutbefleckt, grad' aufgerichtet stunden,
Und Weibern gleich an Haltung und Gestalt,
40 Mit grünen Hydern statt des Gurts umbunden,
Mit kleinern Schlangen aber, wie mit Haar,
Und Ottern rings, die grausen Schläf' umwunden.
43 Und Jener, dem bekannt ihr Anblick war,
Der Sclavinnen der Fürstin ew'ger Plagen,
Sprach: "Nimm die wilden Erinnyen wahr.
46 Zur linken Seite sieh Megären ragen,
Inmitten ist Tisiphone zu schau'n,
Und rechts Alecto in Geheul und Klagen."
49 Die Brust zerriß sich jede mit den Klau'n,
Und sie zerschlugen sich mit solchem Brüllen,
Daß ich mich an den Dichter drängt' aus Grau'n.
52 "Medusa's Haupt! auf, laß es uns enthüllen."
Sie riefen's, niederblickend, allzugleich,
"Was wir versäumt an Theseus zu erfüllen."  54
55 "Wende dich um, die Augen schließe gleich!
Wenn sie bei Gorgo's Anblick offen ständen,
Du kehrtest nimmer in des Tages Reich!"
58 Er sprach's, und eilte, selbst mich umzuwenden,
Verließ sich auch auf meine Hände nicht,
Und schloß die Augen mir mit seinen Händen.
61 Ihr, die erhellt gesunden Geistes Licht,
Bemerkt die Lehre, die vom Schleier umgeben,
In sich verbirgt dies seltsame Gedicht.
64 Ich hört' ein Krachen mächtig sich erheben
Auf trüber Flut, mit einem Ton voll Graus,
Daß die und jene Küste schien zu beben.
67 Nicht anders war es, als des Sturms Gebraus  -
Wild durch der kalten Dünste Kampf mit lauen,
Stürzt er durch Wälder, Aeste reißt er aus,
70 Durch nichts gehemmt, jagt Blüthen durch die Auen;
Stolz wälzt er sich in Staubeswirbeln vor.
Und Hirt und Heerden fliehn voll Angst und Grauen.
73 Die Augen lös't er mir. "Jetzt schau empor,
Dorthin, wo du den schärfsten Rauch entquellen
Dem Schaume siehst auf diesem alten Moor."
76 Wie Frösche, sich zerstreuend, durch die Wellen
Vor ihrem Feind, der Wasserschlange, fliehn.
Bis sie am Strand in Schaaren sich gesellen,
79 So sah ich schnell, als einer dort erschien,
Das Thor von den zerstörten Seelen leeren.
Und ihn mit trocknem Fuß den Styx durchziehn.
82 Er schien den Qualm vom Antlitz abzuwehren,
Vor sich bewegend seine linke Hand,
Und dieser Dunst nur schien ihn zu beschweren.
85 Ich sah's, er sei vom Himmel hergesandt.
Zum Meister kehrt' ich mich, doch auf sein Zeichen,
Neigt' ich mich schweigend, Jenem zugewandt.
88 Mir schien er einem Zornigen zu gleichen,
Er kam zum Thore, das sein Stab erschloß
Und ohne Widerstreben sah ich's weichen.
91 "O ihr verachteter, verstoßner Troß!"
Begann er an dem Thor, dem schreckenvollen,
"Woher die Frechheit, die hier überfloß?
94 Was seid ihr widerspenstig jenem Wollen,
Das nimmermehr sein Ziel verfehlen kann?
Wird Er die Qual, wie oft, euch mehren sollen?
97 Was kämpft ihr gegen das Verhängniß an,  97
Obwohl eu'r Cerberus, ihr mögt's bedenken,
Mit kahlem Kinn und Halse nur entrann?"
100 Dann sah ich ihn zurück die Schritte lenken.
Uns sagt' er nichts, und achtlos ging er fort,
Als müss' er ernst auf andre Sorgen denken,
103 Als die um kleine Ding im nächsten Ort.
Worauf wir beide nach der Festung schritten,
Nun völlig sicher durch das heil'ge Wort.  64-105
106 Auch ward der Eingang uns nicht mehr bestritten;
Und ich, des Wunsches voll, mich umzusehen
Nach dieser Stadt Verhältniß, Art und Sitten,
109 Ließ, drinnen kaum, das Aug' im Kreise gehn,
Und rechts und links war weites Feld zu schauen,
Von Martern voll und ungeheuren Weh'n.
112 Gleichwie wo sich der Rhone Wogen stauen,
Bei Arles und bei Pola dort am Meer,
Das Welschland schließt, und netzt der Gränze Gauen,
115 Grabhügel sind im Lande rings umher,
Wo auf unebnem Grunde Todte modern;
So hier, doch schreckte dieser Anblick mehr,
118 Denn zwischen Gräbern sieht man Flammen lodern,  118
Und alle sind so durch und durch entflammt,
Daß keine Kunst mehr Stahl und Eisen fodern.
121 Halb offen ihre Deckel allesamt,
Und draus erklingen solche Klagetöne,
Daß man erkennt, wer drinnen, sei verdammt.
124 ""Wer, Meister,"" fragt' ich, ""sind die Unglücks-Söhne,
Die, hier begraben, sonder Ruh und Rast
Vernehmen lassen solch' ein Schmerzgestöhne?""
127 Und Er: "Hauptketzer hält der Ort umfaßt,
Und die den Sekten angehangen haben,
In größrer Zahl als du gerechnet hast.
130 Denn Gleiche sind zu Gleichen hier begraben,
Und mehr und minder glüht jedwedes Maal."
Er sprach's, worauf wir rechtshin uns begaben,
133 Fortschreitend zwischen hoher Mau'r und Qual.

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Zehnter Gesang

Erläuterungen:

7  Der Vernunft ist es erlaubt, zu sorgen und zu zweifeln. Wenn sie auch einsieht, daß etwas nicht bestehen kann, daß es nach dem durch Weltgeschichte und Offenbarung gleich deutlich ausgesprochenen Willen Gottes als schlecht und verwerflich in Nichtigkeit zerfallen, daß der Kampf gegen das Verwerfliche am Ende ein siegreicher sein muß, so trübt doch wohl das längere Ausbleiben des erwünschten Erfolgs diese Einsicht und schlägt für den Augenblick die Hoffnung nieder.

16  Dante fängt an zu zweifeln, ob Virgil, dessen Unentschlossenheit er bemerkt, im Stande sei, ihn sicher zu leiten. Deshalb will er erforschen, ob der Meister wohl selbst des Weges kundig sei? Aber er thut dies mit der Zartheit, welche sein Verhältniß zu Virgil erfordert. Vgl. Anmerk. Ges. 3 V. 73-81. Nicht leicht wird derjenige, welcher nichts gegen sich hat, als den Mangel des Glaubens, bis zu den untersten Tiefen des Verbrechens hinabsteigen, wäre es auch nur, um es durch das Anschauen kennen zu lernen. Aber Virgil ist früher durch Erichto , eine thessalische Zauberin, hinunter beschworen worden und kennt daher die ganze Hölle. Der nächste Grund dieser Erzählung ist wohl der, die genaue Bekanntschaft Virgils mit den unteren Kreisen zu erläutern. Eine allegorische Deutung möge jeder Leser selbst wagen, dabei aber hier und anderwärts nicht vergessen, daß der technische Apparat, dessen jeder Künstler bedarf, um die Idee seines Kunstwerks zu versinnlichen, von dieser Idee selbst wohl zu unterscheiden ist.

54  Theseus folgte seinem Freunde Pirithous zur Unterwelt, als dieser die Proserpina entführen wollte. Beide wurden aber gefangen und blieben es, bis Herkules den Cerberus besiegte und den Theseus befreite. Die Furien nehmen zum Haupte der Medusa ihre Zuflucht, damit der Dichter, durch dessen Anschauen versteint, nicht wie Theseus sich entferne. An den Furien hat es den Sekten zu keiner Zeit gefehlt. Unter dem Haupte der Tempelschänderin Medusa mag wohl der Dichter die personifizirte Ketzerei verstehen, welche, wie der schnelle Anwachs neuer religöser Sekten zu beweisen pflegt, oft diejenigen, die sie nur betrachten, verwandelt und ihrer geistigen Freiheit beraubt. Der Uebersetzer glaubt, daß dies die Lehre sei, die nach V. 61-63 hier unter dem Schleier des Gedichtes verborgen liegt.

64-105  Nicht schwer wird es uns werden, den Engel zu erkennen, welcher hier erscheint. Sehen wir ihn doch überall in der Weltgeschichte, da, wo frevelnd gegen Gottes Willen gekämpft wird. Und als das allgemeinste Gebot seines Willens erkennen wir das: Menschheit und Mensch schreite vorwärts! Mit Donnergebraus wird dies Gebot vollzogen, wo es Widerstand findet. Und wenn der Herr durch die Macht seines Zornes die Widerstrebenden züchtigt, so gilt der Einzelne hierbei nur so viel, als er als Theil des unermeßlichen Ganzen werth ist. V. 101-103.

97  Herkules, vom Schicksale zur Hölle gesandt, legte dem Cerberus eine Kette um den Hals und schleifte ihn zur Hölle heraus  -  Hindeutung auf die Fruchtlosigkeit des Widerstandes gegen den Willen einer höheren Gewalt.

118  Die Ketzer sind zur Strafe eingeschlossen in Gräber, welche von Flammen durchglüht werden. Die Deckel derselben sind halb offen (sospesi, d. h. schwebend und so gestellt, daß sie sich zum Herabfallen neigen). Einst beim Weltgerichte werden diese Gräber, wie wir Ges. 10 V. 10 erfahren, verschlossen werden.  -  Nur ein lebendiger Glaube an Gott, der da ist Einer in Dreien, in Macht, Liebe und Weisheit, an eine Versöhnung und ewige Vereinigung mit ihm, giebt der menschlichen Seele Leben. Dieser Glaube lag schon vor der Offenbarung durch Christus seinem Wesen nach in jedem reinen Gemüthe als Ahnung, die Gott hineingelegt hat. Wer von ihm abweicht, sei es, daß er ihn ganz verläßt, oder daß er ihn um des minder Wesentlichen willen aus den Augen verliert, ist, mag er Heide oder Christ sein, nach der Doctrin des Dichters ein Ketzer. Sein wahres Leben ist ertödtet, und er liegt im Grabe, ohne darin Ruhe zu finden. Denn Ruhe findet das Gemüth nur in jenem Glauben und wird ohne denselben gepeinigt von zweckloser Sehnsucht nach den irdischen Gütern, welche, wenn sie kaum erlangt sind, ihren Werth verlieren. Diese zwecklosen Wünsche sind die Flammen, welche hier die Gräber durchglühen. Versinkt einst das Irdische ganz und mit ihm jeder Gegenstand eines solchen Wunsches, dann schließen sich die Gräber und der Unglückliche verliert sich ganz in der grauenvollen Nacht seines Bewußtseins.